Bekanntmachungen
Dem Weltwahnsinn können
Bücher entgegenwirken
Ein Interview mit A. Henry, Autor des Romans „Ein gewisser Brahms“, zur Buchmesse SeitenWechsel in Halle am 8./9.11.2025 – Messehalle 1, Stand G5B
Der Gegenwart. — 3. November 2025
Sie haben sich für die Vorstellung Ihrer Bücher auf der Messe „Seitenwechsel“ entschieden. Warum?
Weil ich diese Messe für eine gute Idee halte. Sie ermöglicht es, so hoffe ich zumindest, auch mal in Nischen zu schauen und dort Interessantes, sonst nicht so Offensichtliches, zu entdecken. Der Markt des geschriebenen Wortes ist breiter und vielfältiger, als man es heute für gewöhnlich vorgeführt bekommt. Obwohl ja immer von Vielfalt die Rede ist. Ich habe mich auch schon auf der Leipziger Buchmesse beteiligt, dort aber das Gefühl gehabt, dass es eher Buchmasse als Buchmesse ist. Die Fülle erschwert, so mein Eindruck, die Wahrnehmung des Besonderen, bei ausgeprägter Dominanz des allseits Bekannten und Propagierten. Vor einigen Jahren war ich selbst einmal in einem großen Buchkonzern tätig gewesen und habe erlebt, wie die üblichen Bestseller produziert werden – ausgehend von der Analyse der Zielgruppe und entsprechenden Kalkulationen bis hin zu den dazu gehörenden Kampagnen in Talkrunden und Illustrierten und Angeboten an die Buchhändler zur Vermarktung des Ganzen. So entstehen Produkte, die sicher professionell und wirtschaftlich das Bedürfnis großer Abnehmerkreise bedienen. Aber das interessiert mich nicht, wenn ich schreibe. Das ist nicht, wonach ich suche. Ich betrete dann eine Welt, in der ich voll und ganz der sein kann, der ich bin. Ob das jemand gut oder richtig findet oder lesen will oder nicht oder wie auch immer beurteilt. Da bin ich einfach frei.
Anders als in Ihrem Beruf als Journalist?
Als Literat kann ich phantasieren. Als Journalist bin ich immer an einen konkreten realen Gegenstand gebunden, an ein Thema, einen Auftraggeber. Die Unabhängigkeit des Journalisten ist relativ. Das wurde mir sehr früh bewusst, als Redakteur der „Berliner Zeitung“, damals noch in Ost-Berlin. Um weniger politisch sein zu müssen, bin ich Mitte der 1980er Jahre in einen Medizinverlag gewechselt, als Fachjournalist. Habe beim Thema Gesundheit die Nische gesucht – und am Ende nicht wirklich gefunden, wie spätestens die Ereignisse der letzten Jahre deutlich gemacht haben.
Welche Bücher stellen Sie auf der Messe vor?
Unter anderem die Erzählung „Das Ende der Klassik“: Nach dem Verbot von klassischer Musik hat sich jemand an einem schalldichten Ort verschanzt und hört heimlich Mozart. Woraus sich unvermeidlich Risiken und Konsequenzen für ihn ergeben. In einem weiteren, neuen Text „Drinnen, hinter der Tür“, den ich in einer kleinen Lesung präsentieren möchte, gerät der Erzähler durch eine Zeitreise in eine Gefängniszelle der 1940er Jahre, wo er Wochen – oder Monate? – mit dem Schriftsteller Wolfgang Borchert und anderen Gefangenen verbringt. Borchert ist jüngeren Menschen heute kaum noch ein Begriff, dabei zählt er zu den bedeutendsten deutschen Autoren, die gegen Krieg und Wehrpflicht eingetreten sind. Außerdem habe ich noch einige letzte Exemplare meines Romans „Ein gewisser Brahms“ dabei. Das Buch ist so gut wie vergriffen und wird sicher nicht noch einmal in dieser Form aufgelegt. Wenn man so will, eine literarische Rarität.
Sie haben diesen Roman und Ihre Erzählungen selbst verlegt. Sind Sie ein vanity publisher?
Ich halte mich nicht für wahnsinnig. Wahnsinnig ist es, Krieg zu führen. Wahnsinnig ist es, die Welt einem Wachstumszwang zu unterwerfen. Jeder Nicht-Wahnsinnige begreift, dass nicht alles endlos wachsen kann – die Großstädte, die Industrieproduktion, der Konsum, der Verbrauch von Ressourcen, die Schulden, die Bevölkerungszahlen. Wer hat zum Beispiel festgelegt, dass wir in Deutschland mindestens 80 Millionen Menschen sein müssen? Im Deutschen Kaiserreich waren es 40 Millionen, und das Land war doppelt so groß. Ein gewisser Bevölkerungsrückgang wäre in vieler Hinsicht vorteilhaft, wenn man genau darüber nachdenkt. Die sogenannte demografische Krise, seit mindestens drei Jahrzehnten beschworen, ist eigentlich das ganze Gegenteil von einer Katastrophe. Es werden falsche Prämissen gesetzt, falsche Ziele verfolgt. Und die Wahnsinnigen machen immer weiter. Bücher können dem Weltwahnsinn entgegenwirken.
Tatsächlich? Inwiefern sehen Sie das beispielsweise für Ihren Roman?
Ich behaupte, es ist ein Freiheitsbuch. Die Sehnsucht nach Freiheit sollte darin als Grundthema zu spüren sein. Ob jener gewisse Brahms, die Hauptfigur, nun zum Wehrdienst oder zum Erfolgstraining genötigt wird – die Sehnsucht nach Freiheit erwacht unter allen Verhältnissen, die von Zwang geprägt und wahngesteuert sind, immer wieder neu. Es war mir wichtig, dabei Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen einzubeziehen und in möglichst zeitloser Form über eine Zeit und eine Generation zu berichten, so dass es jeder – an jedem Ort und zu jeder Zeit – verstehen kann.
Wie lässt sich dieser Anspruch verwirklichen?
Indem ich versucht habe, der Handlung und den Charakteren mehr Gewicht zu geben als den Orten und dem historischen Rahmen des Geschehens. Ich wollte kein Buch vordergründig über die DDR schreiben und auch keines über das wiedervereinigte Deutschland. Egal wo man lebt und ob man sich mit Geschichte auskennt oder nicht – man soll das Buch spannend finden und mit Erkenntnisgewinn lesen. Das war die Herausforderung.
Dennoch tritt zum Beispiel die Stasi – wenn auch nicht mit diesem Wort benannt – mehrfach sehr konkret in Erscheinung. Die Szenen wirken ziemlich echt. Sind sie autobiografisch?
Das ist richtig. Ein Verhör hat tatsächlich einmal fast wortgetreu so stattgefunden wie in dem Buch beschrieben. Ich bin mir sicher, dass sich der betreffende Stasimann wiedererkennen würde, sollte ihm der Roman in die Hände fallen. Auch der erste Ausgang nach einem halben Jahr Kasernierung als Wehrpflichtiger hat sich genauso zugetragen, wie es Brahms in dem Buch erlebt. Ich denke, niemand kann etwas schreiben, das nicht irgendwie mit ihm selbst, mit dem eigenen Leben in Verbindung steht. Auch Science-Fiction-Romane und Fantasy-Literatur sind Übertragungen aus der Wirklichkeit des Autors in eine andere Ebene. Ganz sicher steckt eine Menge von mir in der Hauptfigur des Romans. Doch sie ist nicht mein Doppelgänger. Sie hat einen eigenen Charakter. Sie ähnelt mir, aber ich bin nicht Brahms. Ich bin ja auch nicht A. Henry.
Sondern?
Mein kompletter Vorname ist Henry Andreas – daraus wurde das Pseudonym A. Henry. Ich weiß, dass es in der Literatur schon einen berühmten O. Henry gibt. Erst im Nachhinein habe ich Bücher von ihm gelesen und war überrascht, dass wir uns nicht unähnlich sind. Ich nutze das Pseudonym, um meine literarische Arbeit von meiner journalistischen abzugrenzen.
Bleiben wir weiter bei Ihrem Roman: In dem Buch kommt ein Pfarrer vor, der sich verbrennt. Zugleich widmen Sie Ihr Werk dem Andenken an Pfarrer Oskar Brüsewitz, der vor fast 50 Jahren auf diese Weise in Zeitz (Sachsen-Anhalt) ums Leben kam. Welche Bedeutung hatte das Ereignis für Sie?
Mich hat das damals tief erschüttert, dass jemand so weit gehen kann. Er hat sich öffentlich verbrannt, um ein Zeichen gegen die geistige Unterdrückung und staatliche Bevormundung vor allem der Jugend in der DDR zu setzen. Er hat es also auch für mich getan. Und natürlich wurde er für wahnsinnig erklärt. Doch die Wahnsinnigen waren die anderen, die uns 28 Jahre lang eingesperrt und bespitzelt haben. Schlimm ist, dass sich Dinge wiederholen. 30 Jahre nach dem Fanal von Zeitz verbrannte sich ein weiterer Pfarrer, diesmal in Erfurt. Er wollte vor den Gefahren der Islamisierung warnen. Brennend rief er nach Jesus und nach Brüsewitz und wurde so wie dieser als wahnsinnig abgetan. Ich hätte mir für beide gewünscht, dass sie am Leben geblieben wären, dass sie gepredigt und Bücher geschrieben hätten, um einen offenen konstruktiven Dialog durch ihre kritischen Stimmen zu befördern.
Im letzten Kapitel des Buches taucht eine Politikerin auf …
Ja, und ich versuche, die menschliche Dimension von ihr zu erfassen, indem ich Brahms Jahre vor ihrer politischen Karriere mit ihr in eine Klappbadewanne setze, beide ein gemeinsames Bad nehmen lasse. Für mich ergibt sich die Frage, warum und wie sich Menschen verändern, die zu Politikern werden, wie sie sich entfremden. Plötzlich ist da das Sicherheitsglas einer gepanzerten Limousine zwischen Brahms und ihr. Es teilt die Welt in zwei Hälften ein.
Am Ende fragt man sich, was aus Brahms geworden ist, wie sein Leben heute weitergeht. Was denken Sie darüber?
Wahrscheinlich schlägt er sich irgendwie durch, und wenn es seine Zeit erlaubt, schreibt er Bücher. Der Alltag heute bietet ihm ja jede Menge Stoff. Im Schreiben findet er die Freiheit, die er sucht. Außerdem hat er dabei immer das Gefühl, unter Seinesgleichen zu sein. Er hätte ja auch Stasi-Mann werden können, aber irgendwie passt das nicht zu ihm. Er ist weder als Bomberpilot, noch als Henker geeignet und hat seinen Söhnen sehr ans Herz gelegt, sich niemals zu einem Erschießungskommando zu melden.
Sicher wäre es auch interessant zu erfahren, was aus dem Stasi-Mann geworden ist, der Brahms so authentisch verhört hat?
Wer weiß – er könnte Geschäftsführer einer Firma sein oder Rentner auf einer Kreuzfahrtreise. Man brauchte sich nach 1990 nur umzusehen: Stasileute saßen überall in honorigen Positionen. In Verlagen und Medien, aber auch als Lehrer, Professoren, Kirchenvertreter, Abgeordnete. Wobei sie den moralischen Zeigefinger bis heute gern auf Andersdenkende richten. 2009 gab es ein bezeichnendes Pressefoto vom brandenburgischen Ministerpräsidenten, wie er die stasibelastete Fraktionschefin der Linken küsste und mit ihr damit PR-wirksam ein Regierungsbündnis schloss. Das Bild sagt für mich mehr als tausend Worte. Der Händedruck auf dem SED-Emblem ist weniger intim. Und dann auch noch Verlage, die „Pippi Langstrumpf“ auf politische Korrektheit prüfen – was ist das überhaupt? Ich lasse mich darauf nicht ein. Lieber bleibe ich ein vanity publisher! Oder wie Erich Kästner dichtete: „Nie dürft Ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch den man Euch zieht, auch noch zu trinken!“
Vielen Dank für dieses Gespräch und viel Erfolg auf der Messe!
Quelle: Presseinformation zur Buchmesse SeitenWechsel in Halle/Saale (8.-9.11.2025) | Verantwortlich: Andreas Gericke | E-Mail: agericke@t-online.de

A. Henry im Jahr 1985 in seiner ersten
Wohnung — Foto: galabuch.com
Niemand rechnete mit einem Umsturz oder ähnlichen Ereignissen. Dabei konnte jeder Frisiersalon dieser Stadt über Nacht in einen Vernehmungsraum verwandelt werden ...
A. Henry, „Ein gewisser Brahms“, 2015
Der Autor
»A. Henry sagt über sich: „Ich habe nichts mit dem berühmten O. Henry zu tun. Die Namensverwandtschaft hat keine Bedeutung.“ Auch die Romanfigur des Autors – jener gewisse Brahms – trägt einen fremden berühmten Namen. Man könnte es für Zufall halten, wenn man an Zufälle glauben würde ... 1989 gelang dem Autor eine erste Veröffentlichung mit der Novelle „Die Bandoneonspieler“ in einer Anthologie der Evangelischen Verlagsanstalt in Ost-Berlin. 1995 folgte der selbst publizierte Kurzgeschichtenband „Negative Schriften“. Weitere Texte wurden in dem Band „Jesus besucht die telefonistische Republik“ veröffentlicht.« (galabuch.com)
Das Buch

A. Henry: Ein gewisser Brahms. Roman. 320 Seiten. Erstauflage (limitiert). 450 Exemplare Paperback. Gala-Verlag (2015)
»„Denken kann wie die Atombombe sein. Eine zerstörerische Kettenreaktion. Am Ende würde man zu Schlussfolgerungen kommen, die möglicherweise nicht ohne weiteres zu ertragen wären …“ Brahms, dem sein berühmter Name wie ein „abgetragener Mantel“ erscheint, denkt über vieles nach. Im Frisiersalon, in der Kaserne, beim „Erfolgstraining“ und in den Betten diverser Frauen. Als er ein Ziel zu kennen glaubt, treibt es ihn fort. Letztlich kommt er dort an, wo sein Weg begonnen hatte und wo nur noch eine Ruine auf ihn wartet … Ein Roman über die Kreisläufe des Lebens und der Zeit, über Sehnsüchte und Absurditäten, über eine Generation.« (Verlagstext)
Dokumentation
1976
Oskar Brüsewitz (* 30. Mai 1929 in Willkischken, Memelland; † 22. August 1976 in Halle/Saale, DDR) war ein evangelischer Pfarrer, der mit seiner öffentlichen Selbstverbrennung im August 1976 in Zeitz mittelbar Einfluss auf die Kirche und spätere Opposition in der DDR nahm.
1978
Am 17. September 1978 verbrannte sich im sächsischen Falkenstein/Vogtl. der evangelische Pfarrer Rolf Günther in der Kirche; möglicherweise diente ihm die Tat des Pfarrers Brüsewitz als Vorbild. Jedoch galten in diesem Fall innerkirchliche Konflikte als Ursache für die Selbstverbrennung.
2006
Am 31. Oktober 2006 verbrannte sich im Erfurter Augustinerkloster mit Roland Weißelberg ein weiterer evangelischer Pfarrer. Auch hier diente die Tat des Pfarrers Brüsewitz offenbar als Vorbild. Als Grund für diese Verzweiflungstat nannte der Pfarrer in einem Abschiedsbrief „Sorge vor der Ausbreitung des Islam“. (Wikipedia)
SeitenWechsel

Veranstalter
BuchHaus Loschwitz
Susanne Dagen + Michael Bormann OHG
Friedrich-Wieck-Str. 6, 01326 Dresden
buchhaus_loschwitz@t-online.de
Kontakt
Webseite SeitenWechsel • Die BücherMesse ⋙ Link
Veranstaltungsort
HALLE MESSE
06116 Halle (Saale), Messestr. 10
Öffnungszeiten
8. bis 9. November 2025
Sa, So 10.00 bis 18.00 Uhr
Ausstellungsspektrum
_Fachliteratur & Wissenschaft
_Ratgeber & Sachbücher
_Internationale / Fremdsprachige Literatur
_Historische Literatur
_Belletristik
_Kinder- / Jugendsachbücher
_Buchkunst und Grafik
_u. v. m.