Zwei Musikanten/Vagabunden auf einer Schotterstraße im Muotathal (Schweiz), 1909 — Foto: Sammlung Schweizerische Nationalbibliothek/Wikimedia

Fakten & Daten

Jenische ist sowohl eine Eigen- als auch eine Fremdbezeichnung für Angehörige eines nach landschaftlicher und sozialer Abkunft in sich heterogenen Teils der Bevölkerung in Mittel- und Westeuropa. Historisch lassen sich Jenische auf Angehörige der marginalisierten Schichten der Armutsgesellschaften der frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts zurückführen. Merkmale dieser historischen Jenischen waren ihr ökonomischer, rechtlicher und sozialer Ausschluss aus der Mehrheitsbevölkerung und eine dadurch bedingte Binnenmigration, meist innerhalb Europas. Jenischen zugeordnet wird eine eigentümliche Sprachvarietät, die aus dem Rotwelsch hervorgegangene jenische Sprache. (Wikipedia)

 

KARTE Jenische Dörfer und Lebensräume in Europa
KARTE Jenische Dörfer und Lebensräume in Europa
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Städte mit Jenischen

Deutsche Städte mit jenischer Kultur

Singen (Hohentwiel): Die Einwohnerzahl an Jenischen liegt bei 800.

Ichenhausen (Günzburg): Im Landkreis Günzburg werden 500 Jenische geschätzt; es gibt einen jenischen Fußballclub, den FC Grün-Weiß Ichenhausen

Lützenhardt (Waldachtal, Landkreis Freudenstadt) hat dank seiner mit den Jenischen verbundenen Geschichte eine eigene Sprachvariante hervorgebracht, das Lützenhardter Jenisch

Eschersheim (Stadtteil von Frankfurt am Main). Unter den Familien auf dem Platz Wohngemeinschaft Bonameser Straße leben seit Jahrzehnten Jenische.

Schillingsfürst: In Schillingsfürst gibt es ein Jenisch-Museum.

Pfedelbach: Die Pfedelbacher Gemeinde- und Festhalle wurde Nobelgusch genannt. Nobelgusch kommt aus dem jenischen und heißt Edles Haus. Außerdem gibt es eine Theatergruppe, die Stücke in jenischer Sprache aufführt.

Wildenstein

Leinzell

 

Abgrenzungen

Da Marginalisierungs- und Exklusionsprozesse und deren Verfestigung keine ethnische oder territoriale Besonderheit, sondern universal und überzeitlich sind, gab und gibt es soziokulturell ähnliche Gruppen auch anderswo, so etwa die Burakumin in Japan, die Pavee in den angelsächsischen Ländern, die Quinqui in Spanien, die Sarmastaari in Baluchistan oder die Gadawan Kura („Hyänen-Menschen“), die als Schausteller, Gaukler und Wunderheiler durch Nigeria ziehen.

Gegenüber Roma vertreten jenische Familien traditionell eine strenge Abgrenzung bis hin zum erklärten Heiratsverbot, die sich unter den Bedingungen des gemeinsamen Lebens in sozialen Brennpunkten aber inzwischen „teilweise“ gelockert habe, wie ein Verfasser bereits Ende der 1970er Jahre meinte.
Eine nicht weniger strikte Abgrenzung bis hin zum Ausschluss aus der Gemeinschaft bei Regelverletzung praktizieren umgekehrt zumindest Sinti (Manouches) gegenüber Jenischen. Sie brächten, heißt es, häufig Jenischen gegenüber „eine deutliche Verachtung zum Ausdruck“. Nichtjenische Frauen aus der Mehrheitsgesellschaft demgegenüber seien – so eine Untersuchung aus den 1960er Jahren – begehrte Heiratspartnerinnen.

Auf internationaler politischer Ebene werden die Nichtroma-Gruppen, denen eine „fahrende“ Vergangenheit und/oder Gegenwart zugeschrieben wird, in Europa oft zusammenfassend als „Travellers“ bezeichnet. (Wikipedia)

 

Zusammenschlüsse

▬ Die Genossenschaft fahrendes Zigeuner-Kultur-Zentrum entstand 1985 nach der Neuausrichtung der Radgenossenschaft als Abspaltung mit dem Ziel, die Zusammenarbeit von Jenischen, Sinti und Roma wie bis dahin aufrechtzuerhalten, zu verbessern und in diesem Sinn Öffentlichkeitsarbeit zu leisten.

▬ 1986 richteten Jenische und Sinti mit staatlichen und privaten Spenden die Stiftung Naschet Jenische ein. Die Stiftung bezweckte die Wiedergutmachung für die Betroffenen des „Hilfswerks“ und verfügte über einen Fonds in Millionenhöhe. Ein großer Teil der Fondsgelder wurde jedoch für andere Zwecke verausgabt. Die Stiftungsleitung wurde in der Folge ihrer Aufgaben entbunden. Eine neue Auszahlungskommission konstituierte sich 1991 neu unter dem Dach einer halbstaatlichen Neugründung, der Stiftung zur Wiedergutmachung für die Kinder der Landstrasse. Naschet Jenische ist seither eine Beratungseinrichtung.

▬ 1992 wurde als Gegenorganisation zur Stiftung Naschet Jenische der Verein Interessengemeinschaft Kinder der Landstrasse gegründet, der sich für eine Vergangenheitsaufarbeitung und Rehabilitierung der Betroffenen einsetzt.

▬ Der Verein Schinagl hat sich zum Ziel gesetzt, mittels neuer Berufsbildungsprogramme an neue wirtschaftliche Umgebungen angepasste fahrende Lebensweisen zu ermöglichen.

▬ Um 2005 eröffnete sich jenischen Interessenvertretern die Möglichkeit, sich am Diskurs mit Vertretern der deutschen Politik um den Text für ein Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas zu beteiligen. Die öffentliche Aufmerksamkeit für die Gruppe nahm zu und regte intern die Bereitschaft zur Selbstorganisation an. Es entstanden in kurzer Folge mehrere jenische Neugründungen, so dass es heute eine größere Zahl jenischer bzw. von Jenischen geführter Interessenvereinigungen im deutschsprachigen Raum gibt.

▬ 2004 wurde das European Roma and Traveller Forum als dem Europarat assoziierte NGO mit Sitz in Straßburg gegründet. Dort ist auch die Radgenossenschaft der Landstrasse vertreten. Ihr Repräsentant in der vor allem von Roma bestimmten Institution ist abweichend vom üblichen Auftreten der RG in diesem Fall nicht ein Jenischer, sondern ein Manouche aus der französischsprachigen Schweiz.

▬ Die Gemeinschaft Kochemer Loschen, welche von einigen Jenischen in Luxemburg und Umgebung gegründet wurde, setzt sich für die jenische Jugend ein.

▬ In Singen existiert seit 2003 ein Verein der Jenischen e. V.

▬ Im Jahr 2016 wurde in Singen der Förderverein für die Jenischen und andere Reisende e. V. gegründet, der sich für die Schaffung eines Jenischen Kulturzentrums einsetzt.

▬ Die Union der Vertreter und Vereine der Schweizer Nomaden (UVVSN) ist eine Vereinigung mehrerer Vereine und Vertreter von Schweizer Fahrenden. Sie wurde 2016 mit dem Ziel gegründet, die fahrende Lebensweise der Schweizer Nomaden in ihrem Land zu unterstützen und zu erhalten. Sie wurde auch gegründet, um die Kultur der Jenischen und der Sinti in der Schweiz zu bewahren. (Wikipedia)

 

Sprache und Literatur

Das Jenisch ist keine voll ausgebaute Sprache, sondern besteht aus einem semantisch abweichenden, nicht sehr umfangreichen separaten Teilwortbestand des Deutschen bzw. in Frankreich auch des Französischen unter Einschluss zahlreicher Entlehnungen aus anderen Sprachen. Der Hauptwortbestand, Grammatik, Syntax und Lautung folgen der umgebenden Mehrheitssprache (z. B. Deutsch, auch in dialektaler Ausprägung, Französisch usw.). Die kommunikativen Möglichkeiten sind daher begrenzt. Es ist nicht möglich, umfangreiche und komplexe Sachverhalte in ausführlichen Texten allein aufs Jenische gestützt darzustellen. Demzufolge veröffentlichen Autoren mit jenischem Selbstverständnis in der Sprache der Mehrheitsgesellschaft. Die seltenen literarischen Texte jenischer Sprache beschränken sich auf Kleinformen.

▬ In der deutsch-luxemburgischen Eifel veröffentlichte der regional bekannte Mundart-Dichter und Jenischer Peter Zirbes (1825–1901) Gedichte und Geschichten.

▬ In Deutschland veröffentlichte Engelbert Wittich (1878–1937) Folkloristisches und Kulturgeschichtliches über Sinti und Jenische. Er publizierte auch Gedichte und Lieder auf Jenisch.

▬ Der schweizerische Jenische Albert Minder (1879–1965) publizierte 1948 die „Korber-Chronik“, eine Art Sittengemälde der Jenischen in der Schweiz des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.

▬ Die schweizerische Jenische Mariella Mehr (1947–2022) wurde durch ihre Schriften über ihre Vergangenheit als Opfer des Hilfswerks Kinder der Landstrasse international bekannt. Sie sah sich weniger als Schweizer als vielmehr als Roma-Schriftstellerin. Sie publizierte auf Deutsch und gelegentlich in Romanes und war Mitglied der International Romani Writers (IRWA), deren Vizepräsidentin sie zeitweise war. Für ihre schriftstellerische Leistung wie für ihr minderheitspolitisches Engagement erhielt sie 1998 die Ehrendoktorwürde der Universität Basel.

▬ Der österreichische Jenische Romed Mungenast (1953–2006) publizierte in Deutsch und Jenisch vor allem Kurztexte und Gedichte.

▬ Die österreichische Jenische Simone Schönett (* 1972) verarbeitete in ihrem Roman „Im Moos“ ihre Kindheit in Österreich. Im Roman „Andere Akkorde“ befasst sie sich literarisch mit der Perspektive des Zusammenschlusses der verschiedenen Volksgruppen auf europäischer Ebene.

▬ Der schweizerische Jenische Peter Paul Moser (1926–2003) veröffentlichte im Eigenverlag eine dreibändige Autobiographie mit vielen Reprints von Dokumenten aus seiner Akte als Opfer des Hilfswerks Kinder der Landstrasse.

▬ Der schweizerische Jenische Venanz Nobel (* 1956) publiziert in deutscher Sprache Zeitungsartikel und Buchbeiträge über die Geschichte der Jenischen und jenisches Leben heute.

▬ Die Deutsche Helga Röder (* 1929) schrieb zwei dokumentarisch-biographische Romane.

▬ Die Schweizerin Isabella Huser (* 1958) mit jenischen Vorfahren schrieb zwei Romane, die sich mit der Familiengeschichte auseinandersetzen.

▬ Der Schweizer Aktivist der jenischen Radgenossenschaft Willi Wottreng (* 1948) ist Verfasser einer „grossen Erzählung“, von der die Zeitschrift „Scharotl“ schreibt, sie sei „erfüllt von jenischem Geist und spiegelt unsere Kultur“. (Wikipedia)

 

Kunst und Kultur

Zirkus, Schaustellerei: Bis heute finden sich Menschen mit jenischem Selbstverständnis oder jenischer Herkunft auf allen Ebenen des Zirkus- und Schaustellermilieus. Sie grenzen sich dort von den als „Privaten“ bezeichneten Geschäftsinhabern aus der Mehrheitsbevölkerung ab. Das im Milieu gesprochene Idiom ist sowohl vom Jenischen wie vom Romanes geprägt. Es ist eine berufsfeldtypische Variante des Jenischen.

Musik: In alemannisch-bayrischen Gebieten sind jenische Löffel- und Handorgelspieler regionale Berühmtheiten. Der blinde Geiger Fränzli Waser prägte einen eigenen Stil und eine Besetzung der schweizerischen Volksmusik, welche heute unter dem Namen Fränzli-Musik meist als bündnerische Spezialität wahrgenommen wird. 1978 wurde von der Gruppe HölzerLips das Album Jenischer Schall aufgenommen. Viele der Lieder enthalten Formulierungen im jenischen Idiom. Die Produktion ist Zeugnis einer Wertschätzung jenischer Kultur durch Menschen aus der Mehrheitsbevölkerung, die in den 1970er Jahren im Umfeld der Hippie-Bewegung als eine Art Zigeuner-Kultur wahrgenommen wurde. Man fühlte sich ihr in gewisser Weise verbunden und wandte romantisierende „Zigeuner“-Klischees auf sie an.

Kunsthandwerk: Manche Jenische beweisen nicht nur handwerkliches Geschick bei der Herstellung von Korbwaren oder Schnitzereien, sondern stellen kunsthandwerklich bemerkenswerte geflochtene Stühle, Bugholz- und Rattanmöbel her. Ihre Produkte bieten sie an hervorgehobenen Punkten an den Straßen, auf Märkten und mit abnehmender Häufigkeit als Hausierware an. Nach wie vor betätigen sich Jenische bis heute als Korb- oder Stuhlflechter, zu bemerken ist allerdings gerade beim Angebot des Straßenhandels der Übergang zu angekauften Korbwaren und vermehrt zu großformatigen bunten Plastikfiguren. Jenische in Frankreich und den Benelux-Staaten stellen auch künstlerische Zinn- und Kupferwaren her. Das Museum der Kulturen Basel besitzt eine umfangreiche Sammlung jenischer Kunsthandwerksarbeiten, die vor allem auf die intensive Zusammenarbeit des Museums mit Engelbert Wittich zurückgeht, in der permanenten Ausstellung jedoch nicht zu sehen ist. (Wikipedia)