Bahnbrechende Bücher
Horst Krüger
Vor fünfzig Jahren kritisierte der lebenserfahrene Schriftsteller seine Intellektuellen-Kollegen für ihre naive Hoffnung auf den Sozialismus. Ein Text, den man heute nochmal lesen sollte.
Der Gegenwart. — 31. März 2023 — Nach einem Zufallsfund in der Bücherzelle.
Nicht die Leute, die Bürger dieser Republik, wohl aber meine Kollegen und Zunftgenossen, unsere westdeutschen Intellektuellen, also immerhin die Fackelträger der Nation und auch manche, die am Drücker herumsitzen, in den Kulturmaschinen, sehe ich wieder einmal reihum damit beschäftigt, dieser Republik den Bund aufzusagen mit Zorn, ach mit blankem Haß. Sie haben den Handschuh wieder geworfen, diesmal sozial. Das System ist in Acht und Bann gefallen, sie prangern es täglich an.
Horst Krüger in: Zeitgelächter, 1973, Seite 102
Horst Krüger wurde als Sohn von Fritz und Margarethe Krüger geboren. Seine Zwillingsschwester Ruth starb drei Monate nach der Geburt. Der Vater war ein deutsch-national orientierter Beamter, der vom Hilfsassistenten zum Amtsrat im Preußischen Kultusministerium aufgestiegen war. Seine Kindheit und Jugend verlebte er in Berlin. Vier Jahre besuchte Horst Krüger die Wald-Grundschule in Eichkamp, neun Jahre das Grunewald-Gymnasium, wo er 1939 das Abitur machte. Krügers ältere Schwester Ursula verübte 1938 mit 21 Jahren Suizid. Seine Eltern starben 1945. Von 1948 bis zur Scheidung 1955 war er mit der Psychotherapeutin Hildegard Lange-Undeutsch verheiratet.
Studium, politische Haft, Krieg
Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaften, zunächst an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin bei Nicolai Hartmann, Eduard Spranger und Romano Guardini. Im Dezember 1939 wurde er verhaftet, saß im Untersuchungsgefängnis Moabit in Gestapo-Haft. Ihm wurde „Vorbereitung zum Hochverrat“ vorgeworfen, weil er als Kurier für eine von Ernst Niekisch gegründete Gruppe von Nationalbolschewisten gearbeitet hatte. Im März 1940 wurde er jedoch von der Gestapo auf Bewährung entlassen, verließ Berlin. Sein Studium setzte er in Freiburg im Breisgau bei Martin Heidegger fort. 1942 wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Zwei Jahre später wurde er bei der Schlacht um Monte Cassino schwer verwundet. Nach seiner Rehabilitation wechselte er Ostern 1945 bei Unna die Front, war US-amerikanischer Kriegsgefangener im Lager Cherbourg, wurde 1946 von dort nach Freiburg entlassen.
Kulturredakteur
Nach 1946 arbeitete Horst Krüger zunächst als Mitarbeiter im Verlag Herder, ab 1947 als literarischer Mitarbeiter für das Feuilleton der neugegründeten Badischen Zeitung in Freiburg. Von 1952 bis 1964 leitete er das Literarische Nachtstudio des Südwestfunks in Baden-Baden. Dort versuchte er vor allem die Literatur der verbannten und emigrierten Schriftsteller wieder bekannt zu machen. Zu seinen im Radio übertragenen Gesprächsrunden kamen unter anderem Theodor W. Adorno, Arnold Gehlen, Ernst Bloch und Alexander Mitscherlich.
Schriftsteller, Journalist
1964 zog Horst Krüger als freier Schriftsteller nach Frankfurt am Main. Er freundete sich mit dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer an, beobachtete auf dessen Einladung vier Wochen lang den ersten Frankfurter Auschwitzprozess. Der Prozess wurde zum Auslöser seiner Erinnerungen über seine Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus, die 1966 erschienen und sehr häufig wieder aufgelegt wurden, zuletzt 2019. Ab 1969 schrieb er vor allem Reise-Erzählungen, die oft eine sozial-ethnographische Perspektive einnahmen und bei aller Eloquenz auf feuilletonistische Beliebigkeit verzichteten. Krügers Themen waren stets auch die nationalsozialistische Vergangenheit und ihre Folgen, die deutsche Teilung und die Erinnerungen an seine Jugend in Berlin.
Zwischen 1963 und 1987 schrieb er für das Feuilleton der Wochenzeitung Die Zeit. Seine Texte trug er regelmäßig im Rundfunk vor. Dabei fiel er durch den sogenannten Krüger-Sound auf: ein lyrisches Parlando, das Punkte, Kommata und andere Satzzeichen ausließ. Seine Lesungen lösten stets viel Hörerpost an die Rundfunkanstalten aus. Für ARD und ZDF drehte er Dokumentarfilme, darunter mit István Bury die Städteporträts Der Kurfürstendamm – Glanz und Elend eines Boulevards (1982), Frankfurt am Main – Plädoyer für eine verrufene Stadt (1983), San Francisco – Beschreibung einer Faszination (1983) und Einladung nach Budapest (1985).
Letzte Jahre
In seinen letzten Lebensjahren hinderten ihn Krankheiten am Weiterschreiben. Seinen 80. Geburtstag hatte er bereits schwer erkrankt auf einer Intensivstation verbracht.
Horst Krüger war Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland und des Autorenrats im Freien Deutschen Autorenverband.
Auszeichnungen und Ehrungen
1970: Thomas-Dehler-Preis des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen
1972: Johann-Heinrich-Merck-Preis
1973: Deutscher Kritikerpreis
1975: Ernst-Reuter-Preis
1980: Goetheplakette der Stadt Frankfurt am Main
1982: Goldene Kamera für sein Drehbuch zum Film Der Kurfürstendamm
1983: Journalistenpreis der Stadt München
1988: Friedrich-Märker-Preis
1990: Hessischer Kulturpreis
1990: Bundesverdienstkreuz am Bande laut Hessischer Staatsanzeiger 1990.
Textgrundlage: https://de.wikipedia.org/wiki/Horst_Kr%C3%BCger_(Schriftsteller)
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LESEPROBE
Das verhaßte System
Horst Krüger: Zeitgelächter. Ein deutsches Panorama. Nach der Erstausgabe 1973, Seiten 100 bis 107
Eine merkwürdige Erfahrung ist das, seit einigen Jahren. Eine Frage, die mich immer wieder bewegt, die mir täglich neu über den Weg läuft und die mich allmählich etwas gereizt, um nicht zu sagen rabiat macht. Ich stelle sie öfters des Abends im stillen Kreis unter uns, uns Intellektuellen. Ich frage: Was bringt euch eigentlich so auf? Was habt ihr denn?
Eine Antwort kriege ich nie. Die meisten hören nicht zu, was verständlich ist. Zuhören wird immer schwerer. Manche hören auch weg, andere verstummen einfach, noch andere beginnen plötzlich mit erregter Stimme von Angola oder Martinique zu erzählen, sehr detailliert die Ausbeutung dort zu beschreiben. Fürchterliche Tatsachen, dringend veränderungswürdig, wohl wahr – nur: Was hat das mit meiner Frage zu tun? Ich sprach von nahen und überprüfbaren Verhältnissen: der BRD und ihren Dichtern zum Beispiel. Schweigen, Achselzucken, etwas Gelächter. Die Sache wird weggewischt mit einer Serviette, wird heruntergeschluckt mit einem Whisky und ist dann vergessen – vom Tisch, wie man sagt. Man kommt also nicht weiter so. Ich stelle die Frage noch einmal: hier.
Ich bin ein Bürger der Bundesrepublik. Am Anfang, zu Adenauers Zeiten, als die Namen Brentano und Globke in Bonn etwas galten, schien sie mir ziemlich suspekt, beinah fremd: der Rheinstaat, von dem Kurt Schumacher sprach. Aber dann wurde sie doch besser langsam, mit sinkender CDU-Macht. Sie mauserte sich ganz beträchtlich, wurde beinah glaubwürdig im ersten Erwachsenenalter, nach zwanzig Jahren. Jedenfalls, seit der sozial-liberalen Koalition fühle ich mich mit ihr identisch – als Staatsbürger. Ich würde diese BRD gern die erste deutsche Republik nennen, die akzeptabel ist, auch für den Geist. Ich würde sie gern meine Republik nennen. Sie ist noch lange nicht fertig, noch gar nicht perfekt, im Zweifelsfall aber doch wert, erhalten, ja verteidigt zu werden. Man muß nicht stolz darauf sein. Nach Hitler sind nationale Gebärden immer noch suspekt – in Deutschland. Immerhin, manchmal, drinnen oder draußen, möchte ich mich zu dieser Republik doch bekennen dürfen, in Grenzen natürlich. Ich möchte zu ihr ja sagen: Ja ja; ja, aber. Natürlich sind auch gleich Einwände anzumelden. Das versteht sich im Stand eines Intellektuellen.
Jetzt kommt der Haken. Das Problem beginnt. Natürlich kann ich das, wenn ich's wollte, in Bonn oder Bad Godesberg, wo's niemanden interessiert. Ich kann es nicht mehr in meiner Zunft, in meiner Berufsgruppe, im Kreis unserer westdeutschen Intellektuellen. Der Geist geht jetzt andere Wege, radikal. Ich komme da kaum mit, bleibe deutlich zurück. Man macht sich nur Feinde, wenn man irgendwo in Hamburg, Frankfurt oder München im Saal aufsteht, wo dreihundert Literaten, Jungsoziologen, Lektoren, Lyriker, Jungfilmer versammelt sind und förmlich zittern vor Protest, vor flammendem Widerstand. Sie sind immer so wütend dagegen. Wenn man da also aufsteht, verstößt man gegen ein Tabu unserer literarischen Republik, etwa dies sagend: Ich weiß nicht, ich bin eigentlich anderer Meinung. Ich finde diese Republik so schlecht nicht, wie ihr sie hier macht. Nicht so schlecht, daß es sich nicht lohnen würde, sie besser zu machen – mit Reformen. In der Wurzel möchte ich diese Gesellschaft doch bejahen. Es ist hier noch vieles zu ändern, das schon. Trotzdem: Dies ist der freieste Staat, den wir je hatten. Ich sehe, Schweden vielleicht ausgenommen, keinen besseren. So etwas wird in meinen Kreisen niemand zu sagen wagen, öffentlich. Er hätte nur mit brüllendem Gelächter zu rechnen, mit einem etwas fatalen Heiterkeitserfolg.
Nicht die Leute, die Bürger dieser Republik, wohl aber meine Kollegen und Zunftgenossen, unsere westdeutschen Intellektuellen, also immerhin die Fackelträger der Nation, und auch manche, die so am Drücker herumsitzen in den Kulturmaschinen, sehe ich wieder einmal reihum damit beschäftigt, dieser Republik den Bund aufzusagen, mit Zorn, ach, mit blankem Haß. Sie haben den Handschuh wieder geworfen, diesmal sozial. Das »System« ist in Acht und Bann getan. Sie prangern es täglich an. Na bitte, na schön, das ernährt auch seinen Mann, die Unterdrückung, die Ausbeutung, die Unmenschlichkeit, den neuen Faschismus hierzulande an die Wand zu malen. Man lebt ja nicht schlecht dabei, in München-Schwabing zum Beispiel.
Es muß jedenfalls ein furchtbares Unglück sein, als Zeitgenosse der siebziger Jahre zufällig in diese BRD verschlagen worden zu sein. Wir sind zwar ein Einwandererland, eine Hoffnung für viele Fremde ringsum, aber alle Kunstproduktionen beweisen mir eigentlich das Gegenteil. Schriftsteller, Filmer, Fernsehleute zeigen mir täglich, daß nichts als »Herrschaft« hierzulande herrscht. Die Herrschaften sind Kapitalistenknechte, Prügelpolizisten, Unternehmerschweine, Dollarimperialisten, von den Folterknechten der Werbeindustrie zu schweigen. Bitte, so tönt jetzt die Melodie jener Kunst, die »Wirklichkeit reflektiert«, wie's im Jargon heißt, also »fortschrittlich« ist. Ich bin nicht so sicher. Manchmal geht es mir schon wie Willy Brandt, der im Wahlkampf zu den Herren der CDU/CSU etwas ratlos sagte: Ich weiß gar nicht, von welchem Lande Sie eigentlich reden. Es muß sich um ein anderes Land handeln, dessen Unglück Sie beschreiben. Vielleicht Spanien? Die Bundesrepublik kann das doch nicht sein – im Ernst?
Also? Der Handschuh ist geworfen, wieder einmal in Deutschland. Sie sind jetzt alle mächtig beschäftigt. Mit Revolution, mit Systemüberwindung und Kaputtmachen, jetzt, wo die »Revolution« auf den Straßen und in den Universitäten eben zur Ruhe geht, selbst Jusos das Wort Systemüberwindung nur noch klein schreiben. Ach, unser immer verspäteter Geist: Ob Enzensberger oder Walser im mählichen Seniorensessel, ob Kroetz oder Buch im Jugendstand, ob das nun Kursbuch, Kürbiskern oder Konkret heißt – wer »in« sein will, up to date, muß diese Republik, die immerhin von über neunzig Prozent ihrer Bürger herzlich bejaht wird, jetzt mit schönem Dreck beschmeißen. Was Gerhard Zwerenz vor Jahren einmal sächsisch-leichtfüßig »die Lust am Sozialismus« nannte, ist jetzt tatsächlich mächtig im Kommen – in meinen sonderlichen Kreisen. Wer zur Intelligenzija gehören will, zu ihrer herrschenden Klasse im Augenblick, muß mindestens ein Sozialist sein, besser ein profilierter Marxist, am besten ein ehrlicher Kommunist alter Haut. So etwas wie Thälmann wäre schon schön – für Literatur-Kongresse. Die Dichter würden jubeln, niederknien. Nur das schlägt zu Buch im Augenblick.
Ich frage mich: Woher kommt das? Woher kommt eigentlich der Haß auf dieses »System«? Durch welche Wirklichkeit, welche Erfahrung ist er gedeckt? Dieses Wirtschaftssystem, etwas zu allgemein und undeutlich als »Kapitalismus« definiert, befriedet mindestens neunzig Prozent der Menschen hierzulande wie noch nie – aber man darf es nicht mehr sagen, in meinen Kreisen. Es hat seine Fehler, seine unausgeräumten Ecken, seine skandalösen Randerscheinungen, die man verändern muß durch Reform und auch durch Druck. Aber von der Wurzel her ist es doch tauglich, sehr effizient, unerhört produktiv und beweglich. Wahrscheinlich das einzige System, das sich dauernd reformieren läßt durch Druck. Es befriedet schon sehr weite Gruppen, trotzdem wird es als unerträglich, als schlechthin unmenschlich erlebt von unseren Dichtern, den besten sogar. Ich räume das ein. Die Aktien der westlichen Welt fallen dauernd auf den Börsen der Literatur. Sie standen noch nie so tief. Man wird kaum einen Dichter hier finden, der etwa den Mechanismus der Marktwirtschaft, von dem wir doch alle leben, in Wirklichkeit akzeptiert. Sie sind radikal dagegen. Wogegen, bitte? Und womit ist das gedeckt? frage ich wieder.
Andererseits: Unsereiner, nur mit Wirklichkeit, nur mit krudem Alltag befaßt, nicht gerade eine Schnecke, wohl aber auch ein Kriechtier in Europa, seit etwa zehn Jahren reisend, von Frankfurt nach Moskau, von Frankfurt nach Warschau oder Prag oder Magdeburg, also ein Reisender in Bürgerglück, auch etwas utopisch, sammelt seine Erfahrungen. Da kommt auch etwas zusammen in Sachen Sozialismus. Es ist ja nicht so, wie uns manche Rechten, wie es uns die Strauß und Dregger über »den Osten« gern weismachen wollen, immer noch: daß dort nur ein Gefängnis und Armenhaus für die Volker Osteuropa betrieben werde. Natürlich sind das Märchen des Kalten Krieges, bayerische Bierbrauer-Phantasien. Aber es ist wohlbegründet und nach zehnjährigen Erkundungen und Grenzgängen in Osteuropa vielleicht doch erlaubt zu sagen: Einen praktikablen Schlüssel zur Entwicklung und weiteren Beförderung unseres hochindustrialisierten Europas bietet der bekannte, praktizierte Sozialismus nicht. Warum redet ihr eigentlich dauernd davon, man müßte hier sozialistische Verhältnisse einführen, damit das Leben erträglich werde? Diese Rede ist durch keine Erfahrung gedeckt. Seid ihr blind?
Es gibt fortschrittliche Elemente im Sozialismus. Jedermann weiß das: die Bildungs- und Aufstiegschancen von Arbeiterkindern, die Rolle der Frau, der Kindergärten, na, und so weiter. Da gibt es schon Elemente, die nicht zu verachten sind. Aber alles in allem gesehen, wirft das Wirtschaftssystem, Sozialismus genannt, wenig ab für alle. Da ist nicht viel Spannkraft drin. Es hält den einzelnen und die Gesellschaft tief unter dem Niveau ihrer tatsächlichen Leistungs- und Produktivkraft. Darf ich das sagen? Kann ich das aussprechen, ohne nun selbst mit Dreck beschmissen zu werden? Ich meine, es sind nur Erfahrungen. Man kann darüber diskutieren, aber man darf sie ins Auge fassen. Es kann mir doch kein Mensch einreden, daß die Menschen in Brünn untauglichere Bürger seien als die in Bayreuth, daß die Leute von Schwerin untüchtiger seien als die von Lübeck. Warum, darf ich das auch fragen, sehen die Menschen hier fröhlicher, selbstsicherer, eben doch glücklicher aus, die Jugend auch bunter, viel schwungvoller als »drüben«, wo einem der langsame Gang, die allgemeine Müdigkeit, das Rentner-Tempo der ganzen Gesellschaft so sehr ins Auge sticht? Glück wird da immer verordnet, von oben. Es ist ja wohl kein Kalter Krieg, wenn ich sage: Die Farbe des Sozialismus ist nur in der Hoffnung rot. Wenn der Sozialismus dann da ist, geht sie leider ins Grau über.
Der Sozialismus mag, ganz gegen alle Prophezeiungen von Marx, in den unterentwickelten Agrarnationen Asiens und Südamerikas seine Chance haben. Ich räume das ein und wäre dort auch sein Kombattant. Aber hier, in Europa? Eine merkwürdige Mischung aus Kindergarten und Altersheim entsteht hier, sozialistisch. Man wird unentwegt erzogen und ist leidlich versorgt. Aber mehr ist nicht drin für einen erwachsenen Staatsbürger, höchstens Parteikarriere. Das trägt nicht weit, bleibt immer unterlegen, holt nie auf, nie ein. Von Überholen spricht keiner mehr. Es handelt sich hier in Europa um eine Untertanengesellschaft: nicht preußisch – russisch-orthodox, diesmal. Warum muß ich das sagen? Jedermann weiß das. Nicht unsere Intellektuellen.
Jetzt wieder meine Frage, andersherum: Woher dieses kindliche Gottvertrauen in Sachen Sozialismus? Woher dieser Kasperglaube, Freiheit und Wohlstand würden schon herausspringen aus dem Kasten, wenn man nur alles vergesellschaftet? Das soll ein anderer, freundlicherer, humanerer Sozialismus werden, sozusagen meiner, ganz persönlich? Sozialismus ganz privat, ganz wunderschön? Daß ich nicht lache. Wenn einmal Gesellschaft wirklich zusammen ist in Kollektiven, Kommunen und Kohorten, ist dieser Haufen immer von rüder Gewalt. Da wird der einzelne immer abgewürgt und fertiggemacht. So etwas liegt doch im Wesen kompakter Majorität. Und so etwas Zartes soll auch noch wachsen zwischen NATO und Warschauer Pakt? Dafür wollt ihr die Massen auf die Barrikaden schicken? Da werden schon beide Ordnungsmächte dafür sorgen, daß das schön erblühe. Ich meine, das ist nun wirklich Literatur, nicht Politik. Ihr müßtet da übrigens auch noch die Arbeiter fragen, nicht wahr? Haben die eigentlich in eurem Sozialismus auch Stimmrecht?
Woran also liegt es, daß ein Gesellschaftssystem, das sich durch nichts als Krisen, Mangelwirtschaft, handfeste Autoritätsstrukturen und gelegentliche Volksaufstände hervorhebt in Europa, gleichwohl immer attraktiver und faszinierender wird für meine sonderlichen Freunde? Wo kommt so viel Blindheit her? Worin ist es begründet, daß an den Börsen der Literatur die Aktien eines ungenauen Sozialismus jetzt rapide steigen, noch nie so hoch gehandelt wurden, etwa in Verlegerkreisen? Ein Blick auf die Schaufenster der Buchhandlungen zeigt es. Da kommt von Marx bis Rosa Luxemburg, vom Kommunistischen Manifest bis zu Stalin noch einmal die ganze alte Geschichte hoch und läuft und läuft wunderschön. Ich habe nichts dagegen. Ich bin ja der Liberale, also für radikale Freiheit. Ich frage nur: Steht denn die Wahrheit nur in alten Büchern, die man übrigens im Antiquariat nebenan auch haben kann, für Pfennigpreise? Sagt denn die Praxis des Sozialismus nichts? Ist seine Geschichte stumm, nicht zum Sprechen zu bringen? Ist denn gar nichts zu lernen aus Wirklichkeit? Erfahrung – schlägt sie nicht zu Buch? Warum macht eigentlich eine freie Republik den Geist so sehnsüchtig, so unzufrieden, so von Herzen unglücklich und etwas aufsässig, richtig rebellisch? Sie verachten doch dieses Land, weil es ihnen die Chance einer noch nie dagewesenen Freiheit gibt. Sie sehnen sich offenbar nach der starken Hand, Sozialismus genannt. Mein Mann schlägt mich nicht – also liebt er mich nicht. Ist es das?
Manchmal meine ich, es ist der alte deutsche Idealismus, der hier wieder hochkommt. Daß hier wieder nach diesem Götterhimmel, dem absolut Reinen Ausschau gehalten wird, das schon im 19. Jahrhundert die Dichter Deutschlands in Aufruhr und heiliger Verkündigung hielt, nur jetzt marxistisch. O heiliges Herz, Sozialismus. Mögen auch Opfer fallen. Was zählt das, nicht wahr? Es geht doch ums Ganze. Was war das denn immer bei uns, der Idealismus? Daß wir eine unausrottbare Vorliebe für die Idee, aber nicht für die Wirklichkeit hatten. Daß wir immer das Ganze sahen, aber nie das gewisse Detail. Daß wir immer die Menschheit erlösen wollten, der Mensch mag dabei vor die Hunde gehen. Daß wir immer die ganze Freiheit erstürmen wollen, dafür gern ein bißchen Unfreiheit in Kauf nehmen. Es wird ja nur ein bißchen Unfreiheit werden. Bestimmt nicht mehr. Es geht eisern ums Prinzip in Deutschland. Hier herrscht Hegels Geist, unausrottbar. ■
© Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Norbert Gass (Frankfurt/Main; Rechtenachfolger von Horst Krüger).
Autogrammkarte mit Originalunterschrift von Horst Krüger aus dem Besitz des Herausgebers. Sie stammt aus dem Nachlaß des Autogrammsammlers Werner Elsner (1941–2019) aus Leonberg. — Foto: Repro
Eine komische Sache ist das. Der Kapitalismus ist ein System der Ausbeutung, wie doch alle sagen, aber er bereichert die Ausgebeuteten ganz beträchtlich. Der Sozialismus ist das System der Befreiung, wie alle sagen, und verarmt doch die Befreiten so.
Lebensdaten
Horst Friedrich Oswald Krüger (* 17. September 1919 in Magdeburg; † 21. Oktober 1999 in Frankfurt am Main) war ein deutscher Kulturjournalist und Schriftsteller. Seine Erinnerungen Das zerbrochene Haus. Eine Jugend in Deutschland gilt als exemplarische, kritische Darstellung einer Jugend in Deutschland zur Zeit des Dritten Reichs und fand internationalen Anklang. Seine Reiseerzählungen aus vielen Teilen der Welt fanden ein großes Publikum. (Wikipedia)
Das Buch
Horst Krüger: Zeitgelächter. Ein deutsches Panorama. Hoffmann und Campe, Hamburg 1973
»„Zeitgelächter“ ist ein Lesebuch deutscher Gegenwart, wie es politischer und persönlicher, amüsanter und auch tiefgründiger keinem anderen Autor gelingt. Hier kämpft einer mit Witz, Sarkasmus, Ironie und Bosheit, mit den kleinen scharfen Messern der Sprache, und trifft damit. Man möchte Horst Krügers Buch als Pflichtlektüre für Leser empfehlen, die eine unabhängige kritische Meinung zu schätzen wissen. Kritische Köpfe seines Formats sind selten in der deutschen Literatur.« (Verlagstext)
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Die deutsche Vergangenheit lässt sich nicht bewältigen. Man kann sie höchstens vergegenwärtigen. Eben dies hat Krüger getan.
Marcel Reich-Ranicki
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Autogramme
Kelocks Autogramme – Autogramme aus den Bereichen Fußball, Film, Musik und mehr
Martin Keller
Chesterplatz 2
79539 Lörrach
Webseite: www.kelocks-autogramme.de
E-Mail: keller-wittlingen@t-online.de
»Autogramme von meinem Verstorbenen Sammlerfreund Werner Elsner aus Leonberg. Ca. 28.000 Autogramme konnte ich von seinen Erben kaufen. Sehr viele hat er in den letzten 50 Jahren persönlich geholt und vorbildlich archiviert. Das ist nur ein Bruchteil seiner Sammlung, er stand sogar mal im Guinessbuch der Rekorde!« (Autogramme - Autographs - Kelocks am 19. April 2020 auf Facebook)