Hinweise auf Menschen
Johannes Bobrowski
Der Lyriker verstand sich stets als deutscher Dichter. Sein Werk zeigt ein lebenslanges Ringen mit dem Trauma von Vertreibung und Krieg: „Meinen Landsleuten erzählen, was sie nicht wissen.“
Der Gegenwart. — 22. Januar 2023
Bobrowskis Rainfarn und seine anderen Texte taten weh. Denn sie zeigten in sinnlich vollkommener Rede, dass die Flucht aus der Heimat nicht erst mit dem in meiner Familie traumatisch wieder und wieder erinnerten „Einfall“ der Roten Armee nach Ostpreußen begonnen hatte, sondern dass da schon vorher Nachbarn ihre deutsche Heimatprovinz hatten verlassen müssen ... Dem Unrecht, das die Familie beklagte, war anderes Unrecht voraus gegangen, größeres allein schon deshalb, weil es ja von den eigenen Leuten und sogar an eigenen Leuten verübt worden war, Unrecht, über das aber in der Familie nicht gesprochen wurde.
Andreas F. Kelletat: Die verschwundenen Nachbarn. Erinnerung an Bobrowski-Lektionen (2001)
Mit dem Erscheinen des ersten Gedichtbands, „Sarmatische Zeit“ (die West-Ausgabe erschien im Februar 1961, die DDR-Ausgabe im Herbst 61), begannen nun auch kleine publizistische Schlachten um den Außenseiter der DDR-Literatur, der ohne sein Zutun als eine Art DDR-Pasternak geschildert wurde. Im Unterschied zu Autoren wie Peter Huchel, Erich Arendt, Stephan Hermlin, vermeldete man das Auftauchen eines „wirklichen Dichters“, ein neuer Ton sei in die deutsche Lyrik gekommen. Horst Bienek behauptete in der FAZ: „Es ist selten, daß ein lyrischer Debütant so gereift, so durchdacht, so überzeugend auftritt. Immerhin ist Bobrowski an die vierzig. Das mag manches erklären. Man hörte, daß er Hunderte von Gedichten verbrannt habe. Aber auch diese strenge Auswahl in Ostberlin zu veröffentlichen, wo er völlig zurückgezogen als Schreiber in einer Kanzlei lebt, war ihm verwehrt.“
Prof. Klaus Völker: Nachwort zu „Mäusefest“ (1995)
Johannes Bobrowski stammte aus einer evangelisch-baptistischen, nationalkonservativ orientierten Familie. Sein Vater schlug eine Laufbahn in der Reichsbahnverwaltung ein. 1925 zog die Familie nach Rastenburg, 1928 nach Königsberg, wo Johannes Bobrowski das humanistische Stadtgymnasium Altstadt-Kneiphof besuchte. Einflussreich für das spätere Werk wurden alljährliche Sommerurlaube bei Verwandten in den Dörfern an der Memel zwischen Rombinus und Jūra, die von der alten Misch- und Einwanderungskultur Preußisch Litauens geprägt waren. Nach dem Abitur 1937 musste er einen zweijährigen Militärpflichtdienst in Königsberg antreten, während die Eltern und die jüngere Schwester, Ursula Bobrowski, nach Berlin übersiedelten, wo Bobrowski später ein Kunstgeschichtsstudium aufnehmen wollte. Wie die Familie trat er 1935 der Bekennenden Kirche bei. Bobrowski nahm als Gefreiter in einem Nachrichtenregiment am gesamten Zweiten Weltkrieg teil (1939 Polenfeldzug, 1940 Westfeldzug, 1941 Einmarsch in die Sowjetunion: Kaunas, Porchow, Nowgorod, Ilmensee). Ende 1941 konnte er ein Semester lang Kunstgeschichte in Berlin studieren; eine NSDAP-Mitgliedschaft, die ihm einen längeren Studienaufenthalt ermöglicht hätte, lehnte er ab. Erste Gedichte erschienen 1944 in der Zeitschrift Das Innere Reich. Von 1945 bis 1949 war Bobrowski sowjetischer Kriegsgefangener, u. a. im Kohlebergbau am Don (Asowsches Meer).
Aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, lebte er bis zu seinem Tod in Berlin-Friedrichshagen. Er war als Verlagslektor in Ost-Berlin tätig, zunächst für den Altberliner Verlag Lucie Groszer, einen Kinderbuchverlag, ab 1959 als Lektor für Belletristik für den Union Verlag Berlin im Besitz der Ost-CDU. In der von Peter Huchel geleiteten Zeitschrift Sinn und Form erschienen 1955 die ersten Nachkriegsgedichte Bobrowskis. Weitere Veröffentlichungen in meist westdeutschen Zeitschriften und Anthologien folgten, die Bemühungen um die Veröffentlichung eines eigenen Gedichtbands blieben jedoch erfolglos. Erst 1961 erschien in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart Bobrowskis erster Gedichtband Sarmatische Zeit, der wenig später auch in der DDR veröffentlicht wurde. Auch Bobrowskis spätere Veröffentlichungen – sein zweiter Gedichtband Schattenland Ströme sowie seine Erzählungen und Romane – erschienen sowohl in Verlagen der Bundesrepublik Deutschland (Deutsche Verlags-Anstalt, Verlag Klaus Wagenbach) als auch in der DDR (Union Verlag). Bobrowski verstand sich stets als deutscher Dichter, der eine Trennung in ost- und westdeutsche Literatur ablehnte: „Ich bin, meiner Überzeugung nach, ein deutscher Schriftsteller. So wie einige meiner Freunde in Westdeutschland, Westberlin oder Frankreich deutsche Schriftsteller sind.“
Ab 1960 nahm Bobrowski an den Treffen der Gruppe 47 teil, im Oktober 1962 erhielt er deren Preis, wodurch er in ganz Deutschland und auch international bekannt wurde. Infolge seiner zunehmenden Bekanntheit und der ihm zugestandenen Bewegungsfreiheit in beiden deutschen Staaten und Literaturen wurde Bobrowski in seinen letzten Lebensjahren von der Staatssicherheit observiert. 1963 wurde Bobrowski Mitglied im Deutschen Schriftstellerverband der DDR, was er bis dahin vermieden hatte.
Mit nur 48 Jahren starb Bobrowski am 2. September 1965 an den Folgen eines Blinddarmdurchbruchs. Er wurde auf dem Evangelischen Friedhof Friedrichshagen beigesetzt. Die Grabstätte im Feld E 1 gestaltete der Künstler Wieland Förster. Sie ist heute ein Ehrengrab des Landes Berlin. Bobrowskis literarischer Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach, seine nachgelassene Bibliothek in den Historischen Sammlungen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Originale Gegenstände aus Bobrowskis Berliner Arbeitszimmer sind in der Bobrowski-Dauerausstellung in Willkischken (Litauen) zu sehen.
Werk
In Bobrowskis Werke floss die Bekanntschaft mit der osteuropäischen Landschaft, mit deutschen, baltischen und slawischen Kulturen sowie ihrer Sprachen und Mythen ein. Er bezeichnete an verschiedenen Stellen die Geschichte von Deutschen und osteuropäischen Völkern als sein „Generalthema“:
Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, seit den Tagen des Deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buche steht.
Johannes Bobrowski wendet sich in seiner Lyrik auch an Dichterkollegen und andere Künstler, mit deren Lebenssituation und Schaffen er sich in Form einer dialogischen Selbstvergewisserung auseinandersetzt. Im Band Schattenland Ströme ist eine Ode auf Thomas Chatterton enthalten und die Gedichte Brentano in Aschaffenburg, Hölderlin in Tübingen („Turm,/daß er bewohnbar/sei wie ein Tag, der Mauern …“) sowie Gertrud Kolmar, Else Lasker-Schüler, An Nelly Sachs, Hamann oder Mickiewicz. Im letzten von Bobrowski selbst zusammengestellten Band Wetterzeichen finden sich Gedichte u. a. auf die Dichter Klopstock, Jakob Michael Reinhold Lenz, Ludwig Hölty, die Komponisten Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart und die bildenden Künstler Ernst Barlach, Alexej von Jawlensky und Alexander Calder.
Bobrowskis Gedichte zeichnen sich durch eine an Friedrich Hölderlin und Georg Trakl geschulte elementare Naturbildlichkeit und eine von Friedrich Gottlieb Klopstocks Odendichtung hergeleitete rhythmisch-klangliche Suggestivität der Sprache aus. Sie sind meist reimlos und ohne festes Metrum. Motivisch-thematisch ist das Gesamtwerk auf die mittelosteuropäische Landschaft zwischen Ostsee (Ostpreußen) und Schwarzem Meer (Sarmatien) ausgerichtet, von der aus persönliche und historische Vergangenheit aus dem Bewusstsein der deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges gedenkend und sich vergewissernd in Erinnerung gerufen wird. Gesprochen wird aus der Grunderfahrung des Heimatverlustes, der Wanderschaft, der Fremde, die nur literarisch, für den Moment des dialogischen Sprechens, überwunden werden kann. Kritisches und mahnendes Eingedenken deutscher Schuld steht in einem Spannungsverhältnis zur Trauer um die infolge des Zweiten Weltkrieges verlorene ostpreußische Kindheitslandschaft. Die trotz ihrer großen Sinnlichkeit abstrakt zusammengesetzten Bilder der Gedichte stützen Bobrowskis Interesse an paradigmatischen Aussagen. Authentifizierende Spezifika (Namen, Zitate, Redewendungen) verdecken nicht, dass es ihm stets um Exemplarisches geht: Bobrowskis Poetik zielt auf die Aktualität des Vergangenen, auf Übertragbarkeit sozialer Konstellationen und Verhaltensweisen. Historisch-biographische Anspielungen und intertextuelle Verweise sind zahlreich. Ob und wie Bobrowskis Anspruch eines wirkungsästhetisch verstandenen Engagements sich mit der Dunkelheit des Stils vereinbaren lässt, ist ein vieldiskutiertes Problem.
Seit den frühen sechziger Jahren entstanden kürzere Prosaarbeiten und die beiden Romane Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater und Litauische Claviere, die Thematiken und Schreibweisen der Gedichte aufnehmen. Dabei werden gezielt traditionelle Erzählverfahren mit modernen und experimentellen Stilmitteln verbunden (z. B. Die ersten beiden Sätze für ein Deutschlandbuch, Boehlendorff). Bobrowski selbst verortet sein Erzählen in einem imaginären Dreieck zwischen Hermann Sudermann, Robert Walser und Isaak Babel. Charakteristisch sind häufige Wechsel der narrativen Perspektive, Rückblenden, der Einsatz des Inneren Monologs und des Bewusstseinsstroms sowie die ironische Kommentierung oder Brechung der Erzählillusion. Diese und andere Stilmittel wirkten anregend auf die spätere DDR-Literatur.
Literarische Rezeption
Zahlreiche Autoren beziehen sich in Texten auf Person und Werk Bobrowskis, so etwa Christoph Meckel, Günter Grass (Hundejahre), Hubert Fichte (Psyche), Hans Magnus Enzensberger (Sommergedicht), Christa Wolf (Kindheitsmuster), Günter Bruno Fuchs (Ein Besuch ungefähr 1957), Paul Celan (Hüttenfenster), Franz Fühmann (Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens), Kito Lorenc (Epitaph für Johannes Bobrowski), Ingo Schulze (Mein Jahrhundertbuch), Gunther Tietz (Die Verteidigung der Schmetterlinge), Judith Kuckart (Lenas Liebe), Kathrin Schmidt (Passagen), Durs Grünbein (Vom Stellenwert der Worte).
Sarah Kirsch widmete Bobrowski drei Gedichte: Geh unter schöne Sonne (datiert 2. September 1965):
Gestern noch blies er Meer vor sich her, schwamm voller Kunst, peitschte das Wasser […] unsere Küste salzverkrustet und leer verlor ihren Delphin.
In Ich in der Sonne deines Sterbemonats:
ich betreibe Gewohntes […] Flieg Haar von meinem Kamm flieg zwischen Spinnenfäden schwarzes Haar totes Haar eben noch bei mir.
Im Gedicht Eine Schlehe im Mund komme ich übers Feld (datiert 2. September 1965):
mein Kopf eine Schelle klappert und macht einen traurigen Mund meiner mit einer Schlehe deiner Sand schon und Kieselstein ich drüber du drunter.
Herta Müller äußerte 1982 in einem Interview:
Der schafft Sprachbilder, wie ich sie sonst nirgends gelesen hab’. Das ist eine Sprache, die verwundet beim Lesen. Ich wär’ sehr neugierig, wie lange Bobrowski an solch einem Text gearbeitet hat, weil bei ihm jedes Wort so weit in die Tiefe geht. Und wie er jedes dieser Wörter leben konnte, denn die sind gelebt, in allem, was sie sagen können.
Kito Lorenc schrieb in einem 2013 unter dem Titel Begegnung mit Johannes Bobrowski veröffentlichten Brief aus dem Jahr 1974 über den entscheidenden Einfluss, den Bobrowski auf seine Dichterbiografie nahm:
Die eine persönliche Begegnung mit J.B. war für mich wohl mehr ein beschleunigender Katalysator in dem komplexen Wirkungsprozess seines Werkes auf meine dichterische Entwicklung, als ein unabdingbares Ferment hierfür. Das Gespräch mit ihm bekräftigte mich zunächst einmal ganz allgemein in meinem Selbstgefühl als sorbischer Dichter und in meinen ersten, zaghaften Bemühungen, das sorbische Lyrikerbe in deutscher Sprache zu erschließen.
Textgrundlage: https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Bobrowski
Ich selber werde mich nicht auf ostdeutsch firmieren lassen, sowenig wie auf „heimlich westdeutsch“. Entweder ich mach deutsche Gedichte oder ich lern Polnisch.
Lebensdaten
Johannes Konrad Bernhard Bobrowski (* 9. April 1917 in Tilsit; † 2. September 1965 in Ost-Berlin) war ein deutscher Lyriker und Erzähler. (Wikipedia)
Werke u.a.
Sarmatische Zeit. Gedichte. Union Verlag Berlin (1961; 3. Aufl. 1967)
1961 Sarmatische Zeit
Schattenland Ströme. Gedichte. Union Verlag Berlin (1963; 3. Aufl. 1967)
1963 Schattenland Ströme
1964 Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater.
1965 Boehlendorff und Mäusefest. Erzählungen.
1965 Boehlendorff und andere. Erzählungen.
1965 Mäusefest und andere Erzählungen
1966 Litauische Claviere. Roman.
Wetterzeichen. Gedichte. Union Verlag Berlin (1967; 2. Aufl. 1968)
1966 Wetterzeichen. Gedichte.
1967 Der Mahner. Erzählungen und andere Prosa aus dem Nachlass
1970 Im Windgesträuch. Gedichte aus dem Nachlass
1972 Poesiealbum 52, Gedichte
1977 Literarisches Klima – Ganz neue Xenien, doppelte Ausführung
2017 Gesammelte Gedichte
Weiterführendes
Internationale Johannes-Bobrowski-Gesellschaft (IJBG). Die Gesellschaft will die Erinnerung an den deutschen Lyriker und Erzähler Johannes Bobrowski (Tilsit 1917 – Berlin 1965) bewahren und dazu beitragen, sein Werk zu verbreiten und dessen Verständnis zu vertiefen. Sie ist der völkerverbindenden Intention seines Schreibens und der Förderung der deutschen Literatur der fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts verpflichtet.
Webseite: johannesbobrowski.de
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Was braucht der alte Mensch denn schon? Das Tageslicht wird dunkler, die Schatten werden heller, die Nacht ist nicht mehr zum Schlafen, die Wege verkürzen sich. Nur noch zwei, drei Wege, zuletzt einer.
Johannes Bobrowski: Brief aus Amerika. Aus: Erzählungen (1978)