Hinweise auf Menschen
Lothar Kühne
Der Philosoph und Ästhetiker plädierte für den Funktionalismus – den absoluten Vorrang der menschlichen Bedürfnisse in der Architektur – gegen eklektischen Historismus und Postmoderne.
Der Gegenwart. — 20. November 2024
Die Gestalteigenschaften der Mode haben einen funktionalen Doppelcharakter: Sie bilden zuerst die Faszination des Gegenstandes und erregen den Drang zu seiner Aneignung und damit Begegenständlichung des betreffenden Individuums, und sie bewirken dann den psychischen Zwang zur faktischen Enteignung und damit zur Entgegenständlichung des Individuums. Der soziale Defekt des Gegenstandes, der die faktische Selbstenteignung der Nutzer erzwingt, wird mit denselben phänomenalen Eigenschaften der Produkte erreicht, die zuerst ihre besondere Suggestivkraft auf eine Masse von Käufern bewirkten. Die letzte Figur der Selbstenteignung des Individuums ist das Werfen des noch gebrauchswertigen Gegenstandes als Müll. Die Bewegung des Gegenstandes von der Gebrauchs- in die Müllebene ist also doppelt gegeben. Sie wird zuerst als Verlust und Not erfahren und dann als Genuß.
Lothar Kühne: Gegenstand und Raum. Über die Historizität des Ästhetischen (1981)
Lothar Kühne entstammte einer Arbeiterfamilie aus dem nördlichen Sachsen. 1949 konnte er über die Arbeiter- und Bauernfakultät in Halle ein Studium aufnehmen. Nach dem Umzug nach Berlin studierte er von 1952 bis 1957 an der Humboldt-Universität Philosophie und Kunstgeschichte, u. a. bei Wolfgang Heise und Richard Hamann. Nach dem Abschluss war Kühne als Assistent im marxistisch-leninistischen Grundlagenstudium an der TU Dresden tätig, wo er vom Architekturprofessor Georg Münter wichtige Anregungen für eigene architekturtheoretische Überlegungen erhielt.
1960 kehrte er an die HU Berlin zurück, wo er zunächst Oberassistent wurde und 1965 promovierte. Zwei Jahre später wurde Kühne zum Dozenten ernannt, 1971 zum ordentlichen Professor für dialektischen und historischen Materialismus an der Sektion Marxismus-Leninismus. 1975 erfolgte die Promotion B über das Ästhetische als Faktor der Aneignung, des Eigentums und des gegenständlichen Verhaltens.
Kühne war schon während des Studiums Mitglied der SED. Seine politischen Funktionen waren jedoch auch von kontroversen Auseinandersetzungen geprägt. 1953 wurde Kühne aus der Partei ausgeschlossen, 1958 wieder aufgenommen. 1980 wechselte er von der Sektion Marxismus-Leninismus zur Sektion marxistisch-leninistische Philosophie. 1982 wurde er aufgrund seiner Schizophrenie invalidisiert. Ende des Jahres 1985 nahm sich Lothar Kühne das Leben.
Thesen
Lothar Kühne stimulierte die Entwicklung der so genannten Berliner Ästhetik in der Architektur und Ästhetik der DDR. Sie sah im Unterschied zum gängigen Kunstzentrismus die gesellschaftlich hervorgebrachte Gegenständlichkeit sowie die räumlichen Beziehungen der Menschen als ihren bevorzugten Forschungsgegenstand an. Er plädierte für den Funktionalismus – den absoluten Vorrang der menschlichen Bedürfnisse in der Architektur – gegen eklektischen Historismus und gegen die im Westen dominierende Architekturströmung der Postmoderne. Er wandte sich gegen die Stilisierung praktischer Gegenstände zu Kunstwerken, die seit Marcel Duchamp die zeitgenössische Kunst sowie die grundsätzliche Debatte über den Kunstbegriff inspiriert hat.
Wie es Olaf Weber in seinem Aufsatz Funktionalismus als DDR und Utopie formuliert, hielt „Lothar Kühne […] an der These fest, dass der Funktionalismus das ästhetische Formierungsprinzip des Sozialismus (bei ihm: des Kommunismus) sei.“
Textgrundlage: https://de.wikipedia.org/wiki/Lothar_K%C3%BChne
* * *
Der Gegenstand als Gespenst
Von Lothar Kühne.
Jetzt soll versucht werden, eine Vorstellung des Begriffs der Mode in Hinsicht auf ihre Gegenständlichkeit zu geben, indem die unterschiedlichen Bewegungsrichtungen der Gegenständlichkeit innerhalb bürgerlicher Verhältnisse dargestellt werden. Den Weg, den wir hierbei beschreiten wollen, setzt, wenn schon nicht die Gunst des Lesers gegenüber dem sich mühenden Autor, so doch die Fähigkeit und die Bereitschaft voraus, sich an den zahlreichen Klippen dieses Unterfangens nicht zu arg zu stoßen.
Es wird zunächst ein Motiv der allgemeinen Warenanalyse von Marx, das der gespenstigen Gegenständlichkeit, aufgenommen mit der Absicht, es über die ursprüngliche Bedeutung hinaus fortzubilden. Aber die weitertreibende Deutung dieses Motivs soll vollständig auf dem von Marx gesetzten Sinn beruhen. Wenn sie einen rationalen Gehalt erfüllt, ist es im Grunde seine. Um den Tauschwertcharakter der Produkte warenproduzierender Arbeit zu erklären, forderte Marx dazu auf, diese Produkte als bloße Verkörperung abstrakter menschlicher Arbeit zu betrachten, und folgerte: „Es ist nichts von ihnen übriggeblieben als dieselbe gespenstige Gegenständlichkeit, eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit, d. h. der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung.“ Die Eigenart dieser Gegenständlichkeit ist also, daß in ihr als wesentlich erscheint, was objektiv in ihr aufgehoben ist. Das Abstrakte, die Arbeit an sich, beseelt den besonderen Gegenstand. In den Gegenständen selbst bewegen sich die Verhältnisse der Menschen als selbständige Mächte.
Wir wollen uns jetzt der Aufgabe, die Bewegung der Gegenständlichkeit innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse zu verfolgen, zuwenden und gehen von der groben Vereinfachung aus, daß wir die Beziehungen von zwei Individuen voraussetzen, von denen das eine warenproduzierender Verkäufer und das andere zahlender Empfänger und Konsument ist. Beide werden in verschiedenen Stadien der Entwicklung ihrer Beziehungen betrachtet. Der Prozeß vollzieht sich an der Gegenständlichkeit einer Tasse. Der Konsument wohnt in einem Raum, in dessen Mitte ein Tisch steht.
Erstens: der Gebrauchsgegenstand. Unser Mann, es soll der Konsument sein, kaufte bei dem Produzenten eine Tasse, er benötigt sie zum Trinken. Der Produzent war ein qualifizierter Arbeiter. Die Tasse, die auf dem Tisch unseres Mannes stand, war gut geformt und außerordentlich dauerhaft. Er hatte lange Zeit Gefallen an ihr. Aber das Verharren der Tasse im praktischen Gebrauch erregte bald das Mißfallen des Produzenten, er hätte gern mehr Tassen an unseren Mann verkauft.
Zweitens: Vermüllung. Der Produzent erkannte, daß der Fehler bei ihm zu suchen war, er hatte seine Qualifikation falsch eingesetzt. Fähig, wie er war, formte er eine Tasse, die aussah wie die erste, deren Material aber spröde und brüchig war. Unserem Manne entglitt seine Tasse doch einmal im Gebrauch und freudig erkannte er in der zweiten vom Produzenten hergestellten ihren vollen Ersatz. Der Kauf war schnell abgemacht.
Zur Verwunderung unseres Mannes brach die zweite Tasse bald. Da sich derartiges doch oft zu wiederholen schien, ergänzte er die Einrichtung seines Raumes durch ein Müllgefäß. Zuerst war der Verlust einer Tasse ohne jede gesellschaftliche Typik. Wir halten damit ihre Stellung auf dem Tisch als dauernde Gebrauchsform in der Erinnerung fest. Jetzt erst haben wir eine dem Verhältnis der Warenproduktion spezifische Bewegung des Gegenstandes ausgemacht, sein Abfallen von der Gebrauchsebene in die Müllebene.
Unser Mann war enttäuscht und verärgert. Der Produzent hatte schon von dem Mißgeschick seiner Kunden zufrieden Kenntnis erhalten und bereitete sich auf den nächsten Verkauf vor. Wie groß war aber seine Verwunderung, als er unseren Mann an seiner Ladentür vorbeischreiten und nach anderen Verkäufern von Tassen Ausschau halten sah. Das steigerte die Phantasie und Erfindungskraft des Produzenten ins Unermeßliche. Er formte ein tassenähnliches Gefäß, dessen Erscheinung Aufmerksamkeit und Bewunderung erregen mußte. Nur wenige Motive der Plastik und der Malerei wären zu nennen, die nicht wenigstens als Andeutung hier eingefaßt waren. Die Absicht des Produzenten war zwar berechnend, aber doch einfach. Er wollte unseren Mann als Käufer für sich zurückgewinnen und wußte genau, daß es hierzu eines großen Einsatzes bedurfte. Das Ergebnis lag vor, und alle Nöte lösten sich. Unser Mann war mißtrauisch geworden, und da ihm die Tassen der anderen Verkäufer der zuletzt so schnell gebrochenen sehr ähnlich waren, zögerte er mit dem Kauf. Auf dem Rückweg, ohne Absicht, an diesem Tage noch zu kaufen, wurde sein Blick von der letzten Schöpfung des Produzenten gebannt, und es bedurfte nur einer einladenden Geste und. eines Warenlächelns durch den Produzenten, da war er schon im Geschäft, und bald danach konnte er seine Tasse auf seinen Tisch stellen.
Der Produzent und Verkäufer war zufrieden und überlegte, wie er wieder einfache Tassen absetzen könnte, als er am Abend, durchs Fenster unseres Mannes in dessen Raum blickend, dessen Geschäftigkeit bemerkte. Eine Wand wurde mit einem Gerüst bedeckt, darin eine ebene Platte angebracht und diese zum Raume hin mit einer Glasscheibe begrenzt. Unser Mann war dabei, den Schauschrank, den Vorläufer der Schrankwand, zu erfinden. Wenn auch nicht so überlegt und berechnend wie der Produzent und auch ohne dessen praktische Fertigkeiten, war er doch empfindungsfähiger als dieser, im Grunde seines Wesens noch naiv. Als er, wie zuvor andere, diese wundersame Tasse auf seinen Tisch stellte, empfand er die ganze Unangemessenheit zwischen diesem Kunstwerk als Tasse und seiner ursprünglichen Absicht, hieraus zu trinken. Er begriff auf seine einfache Art, daß ihm hier kein Gegenstand des praktischen Gebrauchs, sondern ein Gegenstand der Anschauung auf den Tisch gelangt war, und diese Stellung sich diesem Gegenstand nicht ziemt.
Dem Produzenten ging jetzt die Erkenntnis auf, daß es für ihn keinen Rückzug zu einfachen Tassen hin geben konnte. Die dauerhafte erwies sich seinen Interessen als widersetzig, die zerbrechliche hatte ihm kurzfristig Hoffnung gegeben, aber dann eine für ihn gefährliche Lage heraufbeschworen. Die aus der größten Not gezeugte Form erschien ihm jetzt klar als die Wendung aller Not. Es war:
drittens: die Bekunstung. Die so gewordene Gegenständlichkeit, das erkannte der Produzent sehr bald, war ja durch kein praktisches Bedürfnis begrenzt, also eine grenzenlose Gegenständlichkeit. Und wo ihn das Leben nun auf die Höhen schon theoretischer Reflexion getrieben hatte, wurde ihm auch ein anderes klar: Dieser jetzt zum Kunstwerk erhobene, formell praktische, aber faktisch für die bloße Anschauung festgesetzte und eingeräumte Gegenstand war für sein Interesse nur die ideale Gestalt des strategisch gesetzten Gegenstandes als Müll, der jetzt für unseren Mann einheimelnd und anhänglich geworden war. Diese Idealisierung des Mülls in der Erscheinung des bekunsteten Gegenstandes entwickelte nun eine Tendenz der Verdrängung der praktischen Raumwerte, es wurde die „gute Stube“.
Die Konzentration unseres Interesses auf einen Gegenstand war ja nur eine Vereinfachung, die Überbelegung der Gegenstände mit Insignien von Wert ergreift alle Elemente des Raumes und seine Flächenbegrenzungen. Die Gegenständlichkeit und der Raum werden so wertvoll, daß sie sich für des alltägliche Leben nicht mehr eignen, sie werden sonntäglich. Wir wollen hier die kulturelle Schöpfungsgeschichte unserer beiden Männer abbrechen. Beide haben große Leistungen vollbracht, die bis in unsere Tage und in unsere Räume hineinwirken.
Die größte Schwierigkeit war allerdings noch zu bewältigen. Da die Tasse als Kunstwerk dem praktischen Gebrauch entzogen war, stellte sich die Frage, ob unser Mann in die größte Einfachheit zurücktreten und im Interesse der Kunst auf den Gebrauch einer Tasse verzichten oder der Produzent sich bereitfinden würde, wieder eine funktionale Tasse zu formen. Wir wissen aber, daß er fest entschlossen war, den Ausgangspunkt seiner Produktionen von Tassen nicht wieder aufzunehmen. Und zu dieser inneren Weigerung hatte er allen Grund, denn jeder Schritt zurück war ein Schritt in den Abgrund, aber dieser letzte, zum Anfang unserer Geschichte, hätte seinen sicheren Untergang, den Sturz in den Abgrund bedeutet. Wie war nun unser Mann in den Besitz einer Tasse zu bringen, die er nach allen Erfahrungen mit gutem Gewissen wieder auf den Tisch zum praktischen Gebrauch stellen konnte, ohne daß eine der bereits durchlaufenen Stufen dieser Entwicklung der Gegenständlichkeit wieder eingesetzt wurde? Meine Erzählung würde ihre Glaubwürdigkeit verlieren, wenn die Lösung dieses Problems dem Produzenten oder dem Konsumenten oder auch beiden zugemutet werden würde. Verglichen mit dieser Aufgabe war das von ihnen Geleistete sehr einfach, jede ihrer Lösungen, für die der Produzent doch immer die inspirierende und die Gegenständlichkeit bildende Kraft war, beruhte auf einer klar zu fassenden Punktualität der Ortung und auf einer gleichartigen Linearität der gegenständlichen Bewegung. Die Lösung des Problems kann diese Klarheit der räumlichen Bestimmung des Gegenstandes nicht fortsetzen, trotz allem Licht gerät der Gegenstands ins Dämmrige. Den Schlüssel zu dieser Lösung bietet der Begriff der Synthese. Alle ihr voranstehenden Seinsweisen der Tasse, die Gebrauchsform, die Vermüllung, die Bekunstung, waren jetzt in eine zu fassen. Es ist dieses die vierte Bestimmung der Gegenständlichkeit, der Gegenstand als Gespenst. Der Gegenstand ist jetzt über dem Tisch, er erscheint stehend, ruhig, aber in seinem Wesen, seinem tiefsten Triebe nach ist er bewegt, überall, nur nicht für den Gebrauch, aber dennoch so erscheinend, er sinkt nieder, fällt als Müll, steigt auf in die Erhabenheit der Kunst. Er erscheint noch immer ganz in Ruhe, wir schauen ihn an, greifen, haben ihn in unseren Händen. Aber nicht in unserer Macht.
Auszug aus: Lothar Kühne: Gegenstand und Raum. Über die Historizität des Ästhetischen (1981)
Prof. Lothar Kühne
Foto: Repro
Lebensdaten
Lothar Kühne (* 10. September 1931 in Bockwitz; † 7. November 1985 im Bezirk Rostock) war ein deutscher marxistischer Kulturphilosoph, Architekturtheoretiker und Hochschullehrer. Von 1971 bis 1982 war er an der Humboldt-Universität zu Berlin Lehrstuhlinhaber für dialektischen und historischen Materialismus bzw. marxistisch-leninistische Philosophie. 1990 produzierte das DEFA-Studio für Dokumentarfilme unter dem Titel La Rotonda, Vicenza – In Erinnerung an Prof. Lothar Kühne einen Dokumentarfilm, der das Werk Kühnes würdigt. (Wikipedia)
Wie wir wissen, kritisierte Kühne in Bezugnahme auf Marx immer wieder das Marktförmige der Gestaltung. Aber in der Praxis musste diese Kritik zu Kontroversen führen. Denn die architektonische Postmoderne folgte im Westen zwar zwangsläufig dem Marktgeschehen, doch der Dekorationalismus in der DDR war nicht rühmlicher, folgte nur anderen Triebkräften. Die Dekors an den Plattenbauten waren nur oberflächliche Verhübschungen, mit denen das Fehlen sozialräumlicher, kultureller und technologischer Vielfalt kaschiert werden musste. Ich glaube, dass Lothar Kühne an diesem Widerspruch zugrunde ging.
Die Bücher
Lothar Kühne: Gegenstand und Raum. Über die Historizität des Ästhetischen. (= Fundus-Reihe Bd. 77/78). VEB Verlag der Kunst, Dresden (1981)
PDF mit dem Volltext im Max Stirner Archiv Leipzig ⋙ Link
Lothar Kühne: Haus und Landschaft. Aufsätze (= Fundus-Reihe Bd. 94/95 [recte 97/98]). VEB Verlag der Kunst, Dresden (1985)
Weitere Schriften
▬ Zur Bestimmungsgeschichte des Begriffs sozialistische Architektur. In: Deutsche Architektur. Berlin 1959. H. 11. S. 633.
▬ Das Ästhetische als Faktor der Aneignung und des Eigentums. Zur Bestimmung des gegenständlichen Verhaltens: Arbeiten zur Philosophie, Kunst und Architekturtheorie. Dissertation B, Humboldt-Universität. 2 Bde., Berlin 1975.
▬ Zu erkenntnistheoretischen und ästhetischen Problemen der Architekturtheorie. Dissertation, Humboldt-Universität, Berlin 1965.
Zum Weiterlesen
▬ Olaf Weber: Funktionalismus als DDR und Utopie (2012) ⋙ Link
▬ Olaf Weber: Von einem Besuch bei Lothar Kühne habe ich (fast) keine Erinnerung (2019) ⋙ Link