Hinweise auf Menschen
Ludwik Fleck
Jahrzehntelang blieben seine Schriften zur Erkenntnistheorie unbeachtet. Heute nimmt der Vordenker der modernen Wissenschaftsreflexion den Rang eines Klassikers ein.
Der Gegenwart. — 14. August 2022
Jedes denkende Individuum hat also als Mitglied irgendeiner Gesellschaft seine eigene Wirklichkeit, in der und nach der es lebt. Jeder Mensch besitzt sogar viele, zum Teil widersprechende Wirklichkeiten: die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens, eine berufliche, eine religiöse, eine politische und eine kleine wissenschaftliche Wirklichkeit.
Ludwik Fleck
Die Erkenntnisse von Ludwik Fleck – gerade zum Begriff „Denkkollektiv“ u. ä. – sollten, so möchte man meinen, unverzichtbarer Bestandteil der intellektuellen Ausstattung zeitgenössischer Journalisten sein. Schließlich nimmt Bernhard Pörksen auf Fleck umfangreich Bezug in seinem anerkannten und weitverbreiteten Fachbuch zur Ausbildung von Journalisten (Die Beobachtung des Beobachters: Eine Erkenntnistheorie der Journalistik [2006]). Ludwik Fleck ist seit den 1980ern bekannt durch die Suhrkamp-Ausgaben und er müßte bekannt sein zumindest durch Prof. Dr. Pörksen, immerhin Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Aber nein, die heutige Journaille phantasiert gegenüber einem kritischen Teil der Gesellschaft lieber von „Vorurteilen“ und „Menschenfeindlichkeit“ und beleidigt auf die plumpste Art und Weise den Verstand von gebildeten Lesern – statt sich auf Ludwik Fleck zu besinnen und zu kapieren und zu durchdringen, dass die Wahrheit von A nicht die Wahrheit von B sein muß. —
So. Das mußte Der Gegenwart mal loswerden. Und nun weiter im Text:
Denkkollektiv
Erkenntnis ist nach Ansicht Flecks ein soziales Phänomen und daher nicht als eine zweiseitige Relation zwischen Subjekt und Objekt zu verstehen. Vielmehr müsse als dritter Faktor im Erkenntnisprozess das Denkkollektiv eingeführt werden, das „als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“ definiert wird. In diesem Sinne sei das Denkkollektiv der „Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstils.“
Der Begriff des Denkkollektivs ist im Werk Flecks allgemein gefasst, so dass er sich auf verschiedene soziale Zusammenhänge anwenden lässt. So behandelt Fleck etwa Wissenschaftlergruppen als Denkkollektive, wenn sie sich auf einer gemeinsamen experimentellen und theoretischen Basis mit einem Problem beschäftigen. Zugleich erörtert er jedoch auch breitere außerwissenschaftliche Zusammenhänge unter Bezug auf das Denkstilkonzept. In diesem Sinne könne etwa die Modewelt oder eine Religionsgemeinschaft ein Denkkollektiv bilden. Fleck entwickelt den Begriff des Denkkollektivs am Beispiel der Wissenschaftlergruppen, die an der Diagnostik der Syphilis arbeiteten und letztlich zum Verfahren der (Bordet-)Wassermann-Reaktion gelangten.
In seiner einfachsten Form entstehe ein Denkkollektiv, wenn „zwei oder mehrere Menschen Gedanken austauschen“. Von einer solchen zufälligen Konstellation seien jedoch stabile Denkkollektive zu unterscheiden, die sich durch einen etablierten Denkstil mit Beharrungstendenz auszeichnen. Beharrungstendenz meint, dass die wesentlichen Überzeugungen und Handlungsmuster von den Mitgliedern des Denkkollektivs als so selbstverständlich wahrgenommen werden, dass eine Veränderung undenkbar erscheint. Dass es dennoch zu Veränderungen komme, lasse sich primär durch den interkollektiven Gedankenverkehr erklären, der immer „eine Verschiebung oder Veränderung der Denkwerte zur Folge habe.“
Schließlich postuliert Fleck eine interne Struktur des Denkkollektivs, die sich sozialwissenschaftlich analysieren lasse. Von besonderer Bedeutung sei die Unterscheidung zwischen einem esoterischen Kreis der Fachspezialisten und einem exoterischen Kreis der interessierten Laien. Zwischen diesen beiden Extremen gebe es eine Reihe von Abstufungen, so könne etwa der allgemeine Biologe eine Mittelrolle zwischen dem spezialisierten mikrobiologischen Syphilisforscher und dem interessierten Laien einnehmen. Der internen Struktur des Denkkollektivs entsprechen nach Ansicht Flecks verschiedene Publikationsformen: Die Zeitschriftenwissenschaft, die Handbuchwissenschaft und die populäre Wissenschaft. Dabei wirke jedoch nicht nur der esoterische Kreis auf die Peripherie, der intrakollektive Gedankenverkehr gehe vielmehr in beide Richtungen: Die populäre Wissenschaft „bildet die spezifische öffentliche Meinung und die Weltanschauung und wirkt in dieser Gestalt auf den Fachmann zurück“.
Denkstil
Das Denkkollektiv wird durch einen Denkstil zusammengehalten, der von Fleck als „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“ definiert wird. Der Denkstil lege fest, was innerhalb des Kollektivs als wissenschaftliches Problem, evidentes Urteil oder angemessene Methode gelte. Auch was als Wahrheit gelte, könne nur in der stilgemäßen Auflösung von Problemen bestimmt werden:
Solche stilgemäße Auflösung, nur singular möglich, heißt Wahrheit. Sie ist nicht »relativ« oder gar »subjektiv« im populären Sinne des Wortes. Sie ist immer oder fast immer, innerhalb eines Denkstils, vollständig determiniert. Man kann nie sagen, derselbe Gedanke sei für A wahr und für B falsch. Gehören A und B demselben Denkkollektive an, dann ist der Gedanke für beide entweder wahr oder falsch. Gehören sie aber verschiedenen Denkkollektiven an, so ist es eben nicht derselbe Gedanke, da er für einen von ihnen unklar sein muß oder von ihm anders verstanden wird.
Der Denkstil werde zwar im intra- und interkollektiven Gedankenaustausch permanent geringfügig verändert, erzeuge jedoch zugleich einen Denkzwang, der grundlegende Veränderungen ver- oder zumindest behindere. Diese Beharrungstendenz im Denkstil wird nach Fleck durch fünf Strategien gesichert. Erstens scheine ein Widerspruch zum Meinungssystem undenkbar, so dass gar nicht erst nach konträren Evidenzen gesucht werde. Sollten dennoch widersprechende Evidenzen auftauchen, so blieben sie zweitens ungesehen und ignoriert. Wenn ein Forscher dennoch auf einen Widerspruch stoße, so bleibe dieser drittens häufig verschwiegen und nicht diskutiert. Sollte der Widerspruch dennoch offensichtlich werden, so werde er viertens mittels großer Kraftanstrengung in das Meinungssystem integriert. Insbesondere dieses Merkmal hat in der neueren Wissenschaftsgeschichte und -theorie große Beachtung gefunden. Ein klassisches Beispiel ist die Konstruktion von Epizyklen zur Verteidigung des geozentrischen Weltbildes. Schließlich argumentiert Fleck, dass ein Denkstil sogar Beobachtungen erdichte, die der herrschenden Anschauung entsprechen. So wurde etwa die Analogie maskuliner und femininer Geschlechtsteile in zahlreichen anatomischen Lehrbüchern gezeichnet, auch wenn sie dem heutigen Beobachter als pure Fiktion erscheint.
Wenn es trotz derartiger Mechanismen zu einer grundlegenden Veränderung des Denkstils kommt, so verschwinden nach Fleck die alten Meinungssysteme nicht vollständig. Zum einen gebe es Minderheiten, die an einem alten Denkstil festhalten, wie etwa an der Astrologie, Alchemie und Magie. Zudem sei jeder Denkstil wesentlich durch seine Vorgänger geprägt.
Wahrscheinlich bilden sich nur sehr wenige vollkommen neue Begriffe ohne irgendeine Beziehung zu früheren Denkstilen. Nur ihre Färbung ändert sich zumeist, wie der wissenschaftliche Begriff der Kraft dem alltäglichen Kraftbegriff oder der neue Syphilisbegriff dem mystischen entstammt.
Obwohl jeder Denkstil somit auf den Schultern vergangener Meinungssysteme stehe, können die Veränderungen so grundlegend sein, dass Denkstile eine vollkommen fremde Gedankenwelt konstituieren. Als Illustration verweist Fleck etwa auf einen Text aus dem 18. Jahrhundert, der behauptet, dass man nach dem Essen leichter als vor dem Essen sei, so wie auch Lebende leichter als Tote und fröhliche Menschen leichter als traurige Menschen seien. Aus der Perspektive des modernen Begriffs der Schwere scheinen diese Behauptungen absurd, allerdings beruhten sie auf einer in sich kohärenten Verknüpfung von Schwere, Schwerfälligkeit und Schwermut:
Diese Menschen haben beobachtet, nachgedacht, Ähnlichkeiten gefunden und verbunden, allgemeine Prinzipien aufgestellt – und doch ein ganz anderes Wissen aufgebaut als wir.
Textgrundlage: https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwik_Fleck
Lebensdaten
Ludwik Fleck (1896–1961) gilt als Vordenker der modernen Wissenschaftsforschung. Geläufige Begriffe wie «Denkstil» oder «Denkkollektiv» stammen von Fleck. Seine 1935 bei Schwabe in Basel erschienene Monografie Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache blieb allerdings während Jahrzehnten ebenso unbeachtet wie seine kleineren erkenntnistheoretischen und wissenschaftssoziologischen Schriften. Erst eine knappe Reminiszenz an Fleck im Vorwort von Thomas Kuhns wissenschaftshistorischem Bestseller Structure of Scientific Revolution (Chicago 1962) leitete eine verzögerte Rezeption des Fleckschen Werks ein, die ab den 1980er Jahren deutlich zunahm und Fleck schliesslich in den heutigen Rang eines Klassikers hob. Zeitlebens war und blieb Fleck aber stets auch Mediziner und Naturwissenschafter. Als Forscher und Laborleiter war er erfolgreich im Bereich der Bakteriologie und Serologie. Die Zahl seiner medizinisch-naturwissenschaftlichen Publikationen überwiegt bei Weitem jene im Feld der Wissenschaftsreflexion. Seine Arbeiten wurden in angesehenen medizinischen Zeitschriften veröffentlicht. Ludwik Flecks Leben als jüdischer Wissenschaftler im 20. Jahrhundert führte durch Universitäten ebenso wie ins Ghetto und ins Konzentrationslager, durch ein Europa der Weltkriege und totalitären Systeme, und schließlich nach Israel.
Hauptschriften
Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [Erstausgabe Basel: Schwabe, 1935]. Mit einer Einleitung hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Suhrkamp Frankfurt/Main (stw 312).
Fleck, Ludwik (1983): Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze. Mit einer Einleitung hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Suhrkamp Frankfurt/Main (stw 404).
Fleck, Ludwik (2011): Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Herausgegeben von Sylwia Werner und Claus Zittel unter Mitarbeit von Frank Stahnisch. Mit zahlreichen Abbildungen. Suhrkamp Frankfurt/Main (stw 1953)
Kurzbiographie
11.7.1896: Ludwik Fleck wird in Lemberg (Lwow), das damals zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie gehört, als Sohn jüdisch-polnischer Eltern geboren.
1914–1918: Medizinstudium und Militärdienst während des 1. Weltkriegs. Allgemeinmedizinische Promotion.
1920: Assistenztätigkeiten in akademischer Forschung (Infektionskrankheiten).
1923: Heirat mit Ernestina Waldmann.
1924: Geburt des Sohnes Ryszard Ariel.
1923–1927: Leitung bakteriologischer Labors am allgemeinen Krankenhaus in Lemberg. Gleichzeit baut Fleck ein privates bakteriologisches Labor auf.
1928–1935: Leitung des bakteriologischen Labors der örtlichen Krankenkasse in Lemberg.
1935: Nach Entlassung als Direktor Weiterarbeit im eigenen Privatlabor. Publikation der Monografie Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache.
1939: Sowjetische Besetzung Lembergs. Fleck kehrt an die Universität zurück und wird Dozent für Mikrobiologie.
1941: Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion. Fleck wird mit seiner Familie ins jüdische Ghetto von Lemberg deportiert.
1943: Verschleppung ins Konzentrationslager Auschwitz. Fleck arbeitet im serologischen Labor des Hygiene-Instituts der Waffen-SS.
1944: Deportation Flecks ins KZ Buchenwald. Laborarbeit zur Herstellung von Fleckfieber-Impfstoff.
1945: Befreiung aus Buchenwald. Rückkehr nach Polen. Berufung zum Direktor der Abteilung für medizinische Mikrobiologie an der Universität Llublin.
1946: Habilitation.
1950: Ordentliche Professur für Mikrobiologie an der Universität Llublin.
1954: Aufnahme in die Polnische Akademie der Wissenschaften.
1955: Offizierskreuz des Ordens der Wiedergeburt Polens. Als Präsidialmitglied der Akademie der Wissenschaften baut Fleck deren medizinische Sektion auf.
1956: Herzinfarkt und Diagnose auf Lymphdrüsenkrebs.
1957: Fleck und seine Frau emigrieren nach Israel. Er wird Direktor des Instituts für experimentelle Pathologie am Israel Institute for Biological Research in Ness Ziona.
1959: Visiting Professor für Mikrobiologie an der Hebrew University in Jerusalem.
5.6.1961: Ludwik Fleck stirbt an einem Herzinfarkt in Ness Ziona.
Quelle: https://www.fleckzentrum.ethz.ch/