
Formen der Idee
Meine Schritte werden gelenkt
Zufall? So viele Zufälle? Man spricht miteinander – und findet kurz darauf das genau passende Buch. Das passiert so oft, dass eine Erklärung her muß. Oder wenigstens eine Beschreibung der seltsamen Begebenheiten.
Der Gegenwart. — 26. September 2022 — Update 11. September 2024
Es gibt wohl Millionen verschiedener Bücher, zusammen in Milliarden-Auflagen. Die meisten Menschen, die überhaupt noch Bücher lesen, versuchen ihre gelesenen Bücher schnell und schmerzlos loszuwerden. Solche Bücher haben ihren Dienst getan, die Story wurde mitgeteilt. Mehr ist da oft nicht.
Manche Menschen, die Bücher lesen, lesen aber Bücher intensiver oder andere Bücher als diese Ein-Weg-Bücher. Manche Menschen halten die Bücher fest und leben damit. Diese Lebensbücher werden auf Regalbrettern aufgestellt und – ehrlicherweise müssen wir das zugeben – diese Bücher stauben ein. Der Staub aber ist die Patina auf dem vergilbten Papier. Und nach langer Zeit wird das Buch wiederentdeckt und erneut in die Hand genommen.
Auch die Liebhaberbücher kommen aber wieder in den Kreislauf, aus Platz- und vielen anderen Gründen. Der Ort, wo sich Bücher dann anfinden, um gefunden zu werden, ist eine Tauschgelegenheit, die es vielerorts gibt. Die Spender lassen Bücher dort einfach zurück und nehmen vielleicht etwas Adäquates an sich.
In meiner Gegend gibt es eine Bücherzelle, eine umgewidmete alte Telefonzelle, die einige Vorteile hat: dass sie erstens ziemlich wasserdicht, zweitens abends innen sogar beleuchtet und rund um die Uhr zugänglich ist.
Ein weiteres Bücherkarussell in einem nahegelegenen Supermarkt ist ganz wasserdicht, aber die Anordnung auf den runden Brettscheiben läßt manchmal Bücher herunterpurzeln.
Beide Lektürequellen sind für weitgespannte Interessen so ergiebig, dass der mittelständische Buchhandel stark leiden dürfte. Denn: in der Bücherzelle taucht früher oder später jeder Titel auf. Nach der Erkenntnis, dass man sowieso nicht alles gleichzeitig lesen kann und dass es guten Büchern nicht schadet, wenn seit Erscheinen mal so zehn Jahre vergangen sind, gibt es für den Geduldigen keine Eile.
Erste Episode
Reiseführer
Mein Freund Alexander schwärmt von Cividale del Friuli, einer lieblichen kleinen Stadt im nordost-italienischen Friaul. Antike Sehenswürdigkeiten – die ursprüngliche keltische Siedlung wurde von Julius Caesar zur Stadt erhoben – und die umgebende Weingegend liefern unablässig Gründe, dort zu urlauben. Wir hatten besprochen, demnächst hinzufahren. Zwei Tage nach dem Telefonat finde ich in der Bücherzelle einen Reiseführer „Norditalien“, in dem auch Cividale vorgestellt wird. —
Zweite Episode
Radtourenkarte
Der begnadete Wanderer Sebastian hatte mir von einem Besuch Ostpreußens geschrieben. Nun finde ich in der Bücherzelle – in der sich nur selten überhaupt Reise-Ratgeber finden lassen (und wenn: wie groß ist die Welt!!) – eine 1:100.000-Radtourenkarte „Große masurische Seen“. Was sagt man dazu?! Die Karte war noch nicht benutzt, aus polnischer Produktion (Campio). Wenn Sebastian seine Erlebnisse aufgeschrieben hat, bin ich bestens vorbereitet, seine Route nachzuempfinden. Hab natürlich gleich mit dem Finger die Wolfsschanze besucht, die ich als Jugendlicher mit dem Fahrrad (einer Polen-Rundtour von Cottbus aus) schon mal erreicht hatte. —
Dritte Episode
Jugendfeiergabe
Nach einem Besuch im vergangenen Jahr wollte ich wieder mal meinem Freund Harald schreiben und hatte schon ein paar Formulierungen im Kopf, die ich in Kürze per Mail an ihn senden wollte. Im Bücherkarussell im nahegelegenen Einkaufsmarkt hab ich dann ein sehr schönes Buch entdeckt und mitgenommen, obwohl ich schon lange kein Jugendweiheling mehr bin. Es ist als Gabe zu einer Jugendfeier gedacht und hochwertig grafisch gestaltet – gleich auf dem Buchdeckel eine wundervolle Grafik. „LebensWege. Geraden, Kreuzungen, Umwege“ (2012), herausgegeben vom Humanistischen Verband. Wer ist der Illustrator, Setzer und Layouter?! Mein Freund Harald. —
Vierte Episode
Werkausstellung
„Ich ging im Walde so für mich hin …“ – nun, es war nicht Goethes Wald, sondern Dresden. Vor einer sonntäglichen Zugfahrt hatte ich noch zwei Stunden zu vertrödeln und wollte mir wieder einmal das Stadtzentrum ansehen. Mit der Straßenbahnlinie 3 fuhr ich also vom Nachtquartier in Coschütz in Richtung Hauptbahnhof und beschloß, einige Stationen weiterzufahren und zur Eisenbahn zurückzulaufen. So stieg ich am Pirnaischen Platz aus und ging in Richtung Frauenkirche. Wie in Trance lief ich auf das Stadtmuseum und die Städtische Galerie zu und sah vor mir die Banner und Fahnen zur Kunstausstellung „Angela Hampel“. Angela Hampel ist meine Lieblingsmalerin, sie hatte hier ihre erste große Werkausstellung, von der ich gar nichts geahnt hatte. Natürlich verbrachte ich die Zeit bis zur Rückreise mit den Bildern von Angela Hampel. —
Fünfte Episode
Brücken-Einsturz
Am frühen Morgen des 11. September 2024 – ich hatte mich wieder mal beim Lesen einiger Artikel zu 9/11 vertrödelt –, ging ich einem Link nach, der zu einem Video vom Einsturz der Tacoma-Narrows-Brücke (⋙ Link) führte. Es war um 2.40 Uhr, als ich mir auf einem digitalen Zettel erste Notizen zu diesem Brücken-Kollaps anlegte. Fast zeitgleich – gegen 2.51 Uhr – fuhr in Dresden die letzte Straßenbahn des Tages über die Carolabrücke (⋙ Link). Nur acht Minuten später brach die Brücke auf etwa 100 Metern in sich zusammen. —
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Kein Zweifel: Diese kleine Liste extravaganter Zufälle kann bald fortgesetzt werden, denn: Meine Schritte werden gelenkt. ■
Den Zufall gibt es nicht. Was um dich lebt und leibt,/ Entspringt aus deinem Sein, wenn's dir auch dunkel bleibt.
Dietrich Eckart
(1868–1923)
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Es gibt keinen Zufall;/
Und was uns blindes Ohngefähr nur dünkt,/ Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen.
Friedrich Schiller
(1759–1805)
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Zufall: Das ungewisse Etwas mit dem gewissem Etwa.
Karl-Heinz Karius
(*1935)
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Wir sagen Zufall und meinen Synchronizität.
Andreas Tenzer
(*1954)
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Wenn zwei Notwendigkeiten mit den Köpfen zusammenstoßen, so gibt es einen Funken – die Menschen nennen ihn »Zufall«.
Otto von Leixner
(1847–1907)
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Je wünschenswerter ein Zustand, desto unwahrscheinlicher ist sein zufälliger Eintritt.
Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger
(*1939)
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