Widerspruch+Widerstand
Peter Ruben
Der deutsche Philosoph, Mathematiker und Marxist mußte sich „in der Produktion bewähren“, wechselte „mit fliegenden Fahnen zu Schumpeter“ und wurde in die innere Emigration gezwungen.
Der Gegenwart. — 18. November 2024
Man könnte den DDR-Philosophen den Vorwurf machen, dass sie die tatsächliche Beziehung der kommunistischen Partei zur Wissenschaft am Gang bereits der Ereignisse in der Sowjetunion spätestens seit 1930 hätten wahrnehmen und studieren sollen. Ökonomie, Historiographie, Psychologie, Biologie und auch die eigene Disziplin, die Philosophie, waren darin gravierend betroffen. Aber es ist sicher, dass solche Wahrnehmung, solches Studium, wären sie im Sinne der Aufklärung öffentlich betrieben worden, den sofortigen Ausschluss aus den Reihen der Vertreter institutionalisierter Wissenschaft zur Folge gehabt hätten. Daher muss festgestellt werden, dass die DDR-Philosophie unter stillschweigender Anerkennung oder mindestens Duldung der Tabuisierung essentieller politischer Ausdrücke des Systems ausgebildet worden ist, das sie ermöglicht hat und von ihr verteidigt worden ist. Mit anderen Worten: Es muss eingestanden werden, dass die wissenschaftliche Attitüde, wahrnehmbare Phänomene für sich und objektiv zu thematisieren, mit Bezug auf das Verhalten der politischen Führungsinstitution des eigenen Systems von vornherein aufgegeben worden ist. Damit aber ist die DDR-Philosophie, so sehr in ihr auch Ideologien thematisiert worden sind, selbst unter ideologischem Kommando verwirklicht worden.
Nach dem Abitur in Berlin-Adlershof und dreijährigem Dienst in der Kasernierten Volkspolizei studierte Peter Ruben Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität. 1958 wurde er aus politischen Gründen zwangsexmatrikuliert und musste sich beim Aufbau des Flughafens Berlin-Schönefeld „in der Produktion bewähren“. Ab Herbst 1961 konnte er sein Studium fortsetzen und schloss es 1963 mit einer Arbeit zum Descartes-Leibniz-Streit und dem „Verhältnis von Dialektik und Mechanik“ ab. 1969 promovierte er mit dem Thema Mechanik und Dialektik. 1975 wechselte er von der Humboldt-Universität zum Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR, wo er schließlich stellvertretender Leiter des Bereichs Dialektischer Materialismus wurde. Während dieser Zeit legte er seine Dissertation B zum Thema Widerspruch und Naturdialektik vor und war ein Jahr als Gastprofessor an der Universität Aarhus in Dänemark. 1981 endete eine gegen ihn und Abteilungskollegen wegen „dissidentischer Vorstellungen“ inszenierte Kampagne vor der Zentralen Parteikontrollkommission mit seinem Ausschluss aus der SED, einem Lehrverbot und eingeschränkten Publikationsmöglichkeiten.
1990 wurde er zum Professor ernannt und von der PDS rehabilitiert. Von März bis Juni 1990 nahm er am Runden Tisch der Akademie der Wissenschaften teil. Zum 1. Juni 1990 wurde er Nachfolger Manfred Buhrs als erster und einziger von den Mitarbeitern frei gewählter Direktor des an der Akademie der Wissenschaften der DDR angegliederten Zentralinstituts für Philosophie bis zu dessen Abwicklung Ende 1990. Von 1994 bis 1996 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Frankfurt/Oder.
Peter Ruben arbeitete zunächst zur Naturphilosophie und entwickelte aus dem Verständnis der naturwissenschaftlichen Analyse als materiell vermitteltem Vorgang eine auf dem Marxismus aufbauende Philosophie der Arbeit. Eine jahrzehntewährende Zusammenarbeit verbindet ihn mit der Philosophin Camilla Warnke, die gemeinsam mit Ulrich Hedtke in den 2010 und 2020er seine gesammelten Schriften, zunächst im Internet, zuletzt als vierbändige Buchreihe, herausgab.
Textgrundlage: https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Ruben
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Recherche Dresden
Nachruf auf Prof. Peter Ruben
Von Lothar W. Pawliczak.
Als Philosoph in der DDR erlangte Peter Ruben (1. Dezember 1933 bis 20. Oktober 2024) mit profunden Arbeiten zu Mechanik und Dialektik, zu Philosophiegeschichte und Einzelwissenschaften in den 1970er Jahren auch die Aufmerksamkeit im Westen, insbesondere dann mit seinem Ansatz für eine Philosophie der Arbeit, der auch in einem Sammelband seiner Aufsätze in Westdeutschland erschien (Dialektik und Arbeit der Philosophie. Köln 1978). In der DDR gab es nicht nur Ideologie, Peter Ruben war da in Sozialtheorie und Philosophie eine überragende, von den Parteiideologen allerdings immer schon kaum gelittene Größe.
Seine Wendung, sich auch mit akuten gesellschaftstheoretischen Fragen, mit den Entwicklungsproblemen des „realen Sozialismus“ zu befassen, wurden in der DDR dann auch schnell mit Sanktionen geahndet. Internationale Proteste bewahrten ihn nicht vor einem Lehr- und Publikationsverbot und einem faktischen Kontaktverbot. Er wurde in die innere Emigration gezwungen. Wer sich nicht von ihm distanzierte und weiter mit ihm traf, war verdächtig. Freunden aus Westdeutschland bzw. Westberlin wurde schließlich die Einreise in die DDR verboten.
Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre war in der DDR und auch in Westdeutschland keinem Wissenschaftler vom Fach der Name Peter Ruben unbekannt, aber die ihm auferlegte Isolierung wirkte: damnatio memoriae. Er selbst hat seinen gesellschaftstheoretischen Ansatz in der Stille weiterentwickelt. „Mit fliegenden Fahnen zu Schumpeter“ wechselnd adaptierte er dessen Unterscheidung von ökonomischen Wachstum und Entwicklung sowie die Interpretation der Theorie der langen Wellen von Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew. Mit der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. Ferdinand Tönnies) entwickelte er ein dialektisches Grundverständnis jeglicher menschlicher Organisationsformen. Erst nach 1989 konnte er seinen gesellschaftstheoretischen Ansatz in zahlreichen Aufsätzen publiziert entfalten.
Roher Kommunismus
Peter Ruben gehörte zu den wichtigsten Philosophen der DDR. Dass er den SED-Staat als „rohen Kommunismus“ bezeichnete, gefiel nicht allen. Die Herausgabe seiner philosophischen Schriften gibt Anlass für eine Wiederentdeckung.
Meinung nur parteilich
Nun war immer schon alle kommunistische Öffentlichkeit sofort ›eingehegt‹ von ideologischen Regeln, die Rede und Meinung nur als parteiliche überhaupt will gelten lassen. Eine demgegenüber unbedingte Meinungsfreiheit wurde als bereits reaktionäre Idee eo ipso stigmatisiert. Aber auch die Meinungsfreiheit innerhalb (damals) sozialistischer Parameter, gewissermaßen en famille, wurde unbarmherzig kriminalisiert.
Zum Dissidenten erklärt
Natürlich kannten wir Philosophiestudenten der Humboldt-Universität seinen Namen, aber eher als Gerücht. Da ist einer, der versucht, der marxistisch-leninistischen Philosophie jenen Dogmatismus auszutreiben, wie er in Stalins »Über dialektischen und historischen Materialismus« von 1938 begründet worden ist. Mit dieser Schrift sollten die bis dahin herrschenden »chaotischen Zustände« innerhalb des Marxismus beseitigt werden, so hieß es damals. Statt eigenem Denken und schöpferischem Streit war nun Nachbeten vorgefertigter ideologischer Hülsen angesagt. Wer sich nicht darin hielt, wurde zum Dissidenten erklärt.
Lebensdaten
Peter Ruben (* 1. Dezember 1933 in Berlin; † 20. Oktober 2024 ebenda) war ein deutscher Philosoph. Ruben starb im Alter von 90 Jahren nach langer schwerer Krankheit in Berlin. (Wikipedia)
Prof. Ruben erinnert sich | 1
ZEITZEUGE Prof. Peter Ruben: Privat (zeitpunktplus; 15.8.2013; 11:06 min.)
»Prof. Peter Ruben erinnert sich.«
Prof. Ruben erinnert sich | 2
ZEITZEUGE Der Philosoph Prof. Peter Ruben, Teil 2 (zeitpunktplus; 15.6.2013; 8:44 min.)
»Im 2. Teil dieser Dokumentation über den Philosophen Prof. Peter Ruben berichtet er über den SED-Chefideologen Kurt Hager und die Volksaufstände in Ungarn und der Tschechoslowakei.«
Ein dunkles Kapitel
Ein dunkles Kapitel aus der Geschichte der DDR-Philosophie (nd.aktuell; 7.10.2021; 1:52:52 Std.)
»Nach Bekanntwerden der »Geheimrede« Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU über die Verbrechen Stalins und seines Sicherheitsapparates setzten auch in der DDR, vor allem unter Intellektuellen, heftige Debatten über den zukünftigen Weg der gesellschaftlichen Entwicklung ein. So vertrauten auch zahlreiche DDR-Studenten nur noch der eigenen Vernunft. Da politische Selbstbestimmung von Personen jedoch mit der Linie der führenden Partei, der SED, eher selten übereinstimmte, fand an Universitäten und Hochschulen eine Welle von Verhaftungen und Säuberungen statt, so auch am Philosophischen Institut der Humboldt-Universität in Berlin. Hier konstituierten die Sicherheitsorgane eine »erste Feindgruppe« um Michael Franz, der »44 Thesen« entwickelt hatte, in denen es vor allem darum ging, welche Voraussetzungen seitens der DDR geschaffen werden müssen, um die Einheit Deutschlands möglich zu machen. Zu dieser Gruppe wurden die Philosophiestudenten Karl Sauerland und Gerd Behrens gezählt. Die Drei ließen sich exmatrikulieren. Eine »zweite Feindgruppe« wurde festgestellt. Die Studenten Langer, Schweikert und Messelken erhielten Strafen von sechs, fünf und drei Jahren Zuchthaus. Weitere Studenten wurden exmatrikuliert und kamen zur Bewährung in die Produktion. Im Universitätsverlag Leipzig erschien soeben: »Aktenzeichen I/176/58 – Strafsache gegen Langer u.a. - Ein dunkles Kapitel aus der Geschichte der DDR-Philosophie« von Dr. Camilla Warnke und Prof. Dr. Peter Ruben. Gesprächspartner: Dr. Camilla Warnke (Herausgeberin), Prof. Dr. Michael Franz (Philosoph/Semiotiker) und Dr. Gerald Diesener (Geschäftsführer / Universitätsverlag Leipzig). Moderation: Paul Werner Wagner.«
Mit Prof. Ruben nachdenken
Mit Peter Ruben über Gesellschaft nachdenken (nd.aktuell; 12.10.2022; 1:49:04 Std.)
»Peter Ruben (geboren 1933) war einer der originellsten, produktivsten und umstrittensten marxistischen Denker in der DDR. Die damaligen Umstände und die nach der deutschen Vereinigung haben es bewirkt, dass er nicht – wie es seiner wissenschaftlichen Leistung angemessen gewesen wäre – schulbildend wirken konnte. Gleichwohl regen seine Anstöße nach wie vor viele Kollegen und Freunde zum weiteren und tieferen Nachdenken über wissenschaftliche Probleme und Fragestellungen zur weiteren Gesellschaftsentwicklung an. Nach 1989/1990 wurde der Platz der DDR in der deutschen und der europäischen Geschichte ein zentrales Thema. Nunmehr sind seine Gesammelten philosophischen Schriften in vier Bänden erschienen, herausgegeben von Ulrich Hedtke und Camilla Warnke in Verbindung mit Karl Benne. Enthalten sind alle wichtigen Arbeiten von den 1960er-Jahren bis zur Gegenwart. Gesprächspartner: Dr. sc. Camilla Warnke, Dr. sc. Rainer Land und Dr. habil. Erhard Crome. Moderation: Paul Werner Wagner.«
Schriften
▬ Mechanik und Dialektik. Berlin 1969.
▬ Widerspruch und Naturdialektik. Berlin 1975 (erste Druckfassung: P. Beurton, W. Lefèvre und J. Renn (Hrsg.), 1995, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Band 20 der Preprints des Instituts).
▬ Dialektik und Arbeit der Philosophie. Köln 1978.
▬ Friedrich Engels und die philosophische Begründung der Mathematik. In: 100 Jahre „Anti-Dühring“. Marxismus. Weltanschauung. Wissenschaft. Hrsg. von Rolf Kirchhoff und T. I. Oiserman. Akademie-Verlag, Berlin 1978, S. 309–324.
▬ Philosophie und Mathematik. Eine populärwissenschaftliche Darstellung der philosophischen Basis für das weltanschauliche Begreifen der Mathematik. Leipzig 1979.
▬ Peter Ruben, Camilla Warnke: Philosophische Schriften I. Aarhus, Paris, Florenz 1981 (Raubdruck)
▬ Der moderne Kommunismus und die soziale Frage. Berlin 1999.
▬ mit Hans-Christoph Rauh: Denkversuche: DDR-Philosophie in den 60er Jahren. links, Berlin 2005.
▬ mit Camilla Warnke: Aktenzeichen I/176/58, Strafsache gegen Langer u.a.: Ein dunkles Kapitel aus der Geschichte der DDR-Philosophie. Akademische Verlagsanstalt, Leipzig 2021.
▬ Peter Ruben: Gesammelte philosophische Schriften, hg. von Ulrich Hedtke und Camilla Warnke in Verbindung mit Karl Benne. Band 1: Zu den Philosophischen Grundlagen, Band 2: Zu philosophischen Fragen von Wirtschaft und Gesellschaft, Band 3: Zu philosophischen Fragen der Naturwissenschaften, Zur Geschichte der Philosophie, Band 4: Peter Ruben und Camilla Warnke: Zum philosophischen Denken in der DDR. Verlag am Park. Berlin 2022.