Essenz. Beiträge zur ganzen Wahrheit
Strategie des geordneten Rückzugs
Der Staat dringt immer weiter ins Private vor. Es braucht jetzt eine Trendwende zugunsten der Freiheit.
Von Robert Nef. — 30. Juli 2021
In der klassischen Strategie hat man fünf Grundkampfformen unterschieden, die in der Realität des Krieges meist zu Mischformen geführt haben: Angriff, Verteidigung, hinhaltender Kampf um Zeitgewinn, geordneter Rückzug, und zermürbender Kleinkrieg. Angriff bringt Sieg und Ruhm auf der einen und Niederlage und Schmach auf der anderen Seite und erschwert die Versöhnung. Erfolgreiche Verteidigung bewahrt Eigenständigkeit, kann aber Entwicklungen bremsen. Kampf um Zeitgewinn verschiebt Konfliktlösungen und ermöglicht Atempausen, geordneter Rückzug schafft Raum für neue einvernehmliche Lösungen, und zermürbende Kleinkriege verewigen Konflikte, ermöglichen aber auch gegenseitige Lernprozesse.
Die Coronapandemie und alle Versuche, sie zu meistern, haben bisher vor allem zwei Schwachstellen manifestiert, eine systembedingte und eine sozialpsychologische. Systembedingt ist die Tatsache, dass die zunehmend staatliche und staatlich finanzierte Infrastruktur nicht mehr dienenden, sondern herrschenden Charakter hat. Der sogenannte Service public wird tatsächlich zum Beherrscher der soziokulturellen und ökonomischen Strukturen.
Sozialpsychologisch bedenklich ist die Tendenz, dass eine grosse Mehrheit von Menschen fast grenzenlos bereit ist, sich fremdbestimmen zu lassen, wenn eine Bedrohung gouvernemental und medial eindrücklich genug vermittelt wird. Diese Bereitschaft ist für machtbewusste Regierende eine grosse Versuchung. Wer willkürlich herrschen will, ist an Notständen aller Art interessiert. Der alte Spruch «Not kennt kein Gebot» wird schnell einmal in sein Gegenteil verkehrt: «In der Not akzeptiert man jedes Gebot».
Verantwortung abschieben
Interventionismus ist inzwischen nicht nur «normal», Interventionismus ist auch populär. Es gibt eine starke Neigung, sich bevormunden zu lassen und damit die Verantwortung für sich selbst an Institutionen abzuschieben und, wenns schiefläuft, einen Sündenbock zu haben. Was hätte man denn tun und was hätte man unterlassen sollen?
Nachträgliche Kritik ist billig, vor allem wenn sie sich auf Entscheidungen bezieht, die ohne ein Wissen, das erst nachträglich vorhanden war, haben gefällt werden müssen. Das heisst nicht, dass deshalb falsche Prioritäten und grobe Fehlentscheide, die trotz Warnungen gefällt worden sind, einfach kommentarlos toleriert werden müssten. Entscheidend ist die Frage, was in Zukunft generell besser gemacht bzw. unterlassen werden sollte.
Charles Secrétan (1815—1895), ein aus Lausanne stammender, religiös motivierter Freiheits-Querdenker des 19. Jahrhunderts, hat es auf den Punkt gebracht: «Man kann nicht unvermittelt das 'Laissez-faire' fordern in Situationen, die nicht das Resultat des 'Laissez-faire' sind.» Mein eigener liberaler Reformansatz, den ich schon vor «Corona» immer wieder betont habe, ist die «Strategie des geordneten Rückzugs aus nicht nachhaltig praktizierbaren und finanzierbaren Fehlstrukturen».
Wenn die bestehende Umverteilungs- und Bevormundungspolitik an Geldmangel oder an Konsensmangel oder an beidem scheitert, besteht keinerlei Garantie, dass dann «die Stunde der Freiheit» schlägt. Das «Warten auf den grossen Knall» ist eine allzu riskante Verhaltensweise. Nach einem Scherbenhaufen ist nämlich die Gefahr gross, dass neue politische Heilsbringer aufkreuzen und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch gewählt werden.
Wer den «grossen Knall» vermeiden will, tut gut daran, einen schrittweisen, pragmatischen Weg zu suchen, der sich vorläufig mit einem Teil der bestehenden Mängel abfindet. Kompromisse sind dann zulässig, wenn man sie als solche kennzeichnet und bewusst als das kleinere Übel akzeptiert, das längerfristig den Weg in Richtung mehr Freiheit nicht verbaut. Um konsequent liberal zu sein, braucht es einen langen Atem. Aber die Hoffnung, «dass sich die Menschen generell und auf die Dauer nicht in Ameisen verwandeln wollen» (Ludwig von Mises), bleibt intakt. Und mit jedem Kind wird auch ein neues Wesen geboren, das spontan Widerstand leistet, wenn ihm etwas nicht passt.
Für eine freiheitliche künftige Entwicklung gibt es drei Kernbereiche, die auch für die Zukunft der Arbeitswelt entscheidend sind, und die alle im Rahmen der Pandemiepolitik eine wichtige Rolle gespielt haben. Sie sind — bzw. wären — auf Freiheit vital angewiesen und dürfen keinesfalls zwangsweise reguliert und rationiert werden. Aufgrund ihrer wesensmässigen Unbegrenztheit bieten sie auch in einer zunehmend technisierten und elektronisch vernetzten Welt unendlich viele Beschäftigungsmöglichkeiten. Es handelt sich um Bildung/Forschung, Gesundheit/Wellness und Kultur im weitesten Sinn.
Leider spielt in allen drei Bereichen der Staat eine wachsende Rolle, und diese Zunahme hat sich in der Pandemiezeit intensiviert und beschleunigt. Zunächst zur Bildung: Im Bildungswesen sind wichtige Bereiche schon seit 200 Jahren verstaatlicht, und viele Menschen haben es verlernt, dass sie in die eigene Bildung und in die Bildung ihrer Kinder eigenes Engagement und eigene Mittel investieren sollten. Die Teilverstaatlichung des Bildungswesens hat nicht nur Nachteile, aber es wäre vorteilhaft, wenn die Vermittlung von Bildung als stets knappes soziokulturelles und auch ökonomisches Gut nicht noch mehr zum Staatsmonopol würde. Das staatliche Angebot sollte vermehrt durch private Angebote ergänzt und herausgefordert werden.
Dann zur Gesundheit: Gesundheit ist eines der höchsten Güter, dessen Gewährleistung und Verteilung in den letzten 50 Jahren auch zunehmend verstaatlicht und damit auch rationiert worden ist. Die Pandemie hat die Mentalität massiv gefördert, dass der Staat sowohl für die Prävention als auch für die medizinische Versorgung aller organisatorisch und finanziell abschliessend zuständig sei.
Die Not darf nicht zum Massstab werden
Letztlich zur Kultur: Am wenigsten hat man vor der Pandemie bemerkt, wie stark auch der Kulturbetrieb in den letzten Jahrzehnten von der Staatsförderung abhängig geworden ist. Kultur wird nur noch zum kleineren Teil von jenen finanziert, die sie nachfragen und ursprünglich auch finanziell getragen haben. Darum war es möglich, einen Teil des Kulturbetriebs auch ohne zahlendes Publikum am Bildschirm zu verbreiten. Viele Kulturschaffende waren schon vor der Pandemie mehrheitlich staatsfinanziert und damit mindestens zum Teil staatsabhängig. Eine möglichst staatsunabhängige Kultur ist aber in einer freien Gesellschaft überlebenswichtig. Gute und anspruchsvolle Kultur sollte nicht einfach als «Service public» auf Staatskosten und ohne Belastung der Nachfragenden vermittelt werden.
Die Mainstream-Politik aller Parteien argumentiert zunehmend so: Alle lebens- und überlebenswichtigen, systemrelevanten Bereiche müssen auch in relativ freien Gesellschaften schrittweise vom Staat übernommen werden. Pandemiezeiten liefern gewissermassen das hierfür geeignete Argumentarium. Die Not wird zum Massstab dessen, was auch in der Normalität vorherrschen sollte. Aus freiheitlicher Sicht gilt das Gegenteil: Bildung, Gesundheit und Kultur sind zu wichtig und zu entscheidend, als dass man sie dem Staat als einer Organisation mit Zwangsmonopol, Rationierungskompetenz und Zentralisierungstendenz anvertrauen dürfte.
Das wichtigste Anliegen des Ausstiegs aus der Pandemiepolitik ist darum der geordnete Rückzug aus der zunehmenden Verstaatlichung von Bildung, Gesundheit und Kultur. In allen drei Bereichen zeigt sich die von Charles Secrétan angesprochene Problematik der Rückkehr zu mehr Freiheit und weniger Staat, die eben dadurch erschwert wird, dass es eine «goldene Zeit» ohne staatliche Einrichtungen, Unterstützungen und Regulierungen seit Jahrzehnten und Jahrhunderten nicht mehr gegeben hat — schon längst bevor der Staat sich in Kriegs- und Krisenzeiten und auch in Pandemiezeiten zum «einzigen Retter in der Not» etablieren und profilieren konnte.
Quelle: Dieser Beitrag ist am 30. Juli 2021 in der Finanz und Wirtschaft und im August 2022 beim Liberalen Institut erschienen. Wir danken Herrn Robert Nef herzlich für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung auf dieser Webseite.
Es gibt keine «Billiglohn-Arbeit». Jeder Lohn ist «billig», wenn er allen Beteiligten einvernehmlich etwas wert ist. Jede zwangsweise Lohnregulierung, vor allem der Mindestlohn, ist Gift für einen offenen Arbeitsmarkt und schafft jene Arbeitslosigkeit, die mit dem Verlust eines Teils der Menschenwürde verknüpft ist. Auch das Verteilen von staatlichen Arbeitslosenrenten und das damit verknüpfte Abhängigmachen der Empfänger ist menschenunwürdig.
Robert Nef im Interview
für Ars Biographica
Lebensdaten
Robert Nef, geboren am 5. April 1942, hat Rechtswissenschaften in Zürich und Wien studiert. Zwischen 1961 und 1991 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechtswissenschaft an der ETH Zürich. 1979 hat er das Liberale Institut gegründet, das er seit 2008 präsidiert. Von 1994 bis 2008 war er Mitherausgeber der Schweizer Monatshefte. Er ist Mitglied der Mont Pelerin Society sowie der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft, Präsident der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur, Präsident des Vereins “Gesellschaft und Kirche wohin?” und Stiftungsrat der Stiftung “Freiheit und Verantwortung”. Robert Nef ist Präsident des Stiftungsrates des Liberalen Instituts. 2008 wurde er mit der Friedrich A. von Hayek-Medaille ausgezeichnet. Nef vertritt betont wirtschaftsliberale und staatskritische Positionen. Für die Zeitschrift Eigentümlich frei ist er als Autor tätig und Mitglied des Redaktionsbeirats. Zu Nefs 70. Geburtstag ist 2012 unter dem Titel “Robert Nef – Kämpfer für die Freiheit” eine Festschrift erschienen, u.a. mit Beiträgen von Charles B. Blankart, Christoph Blocher, Peter Forstmoser, Heidi Hanselmann, Konrad Hummler, Václav Klaus, Gerhard Schwarz, Tito Tettamanti, Erich Weede und Peter Ruch. Seine Webseite: www.robert-nef.ch
Gespräch mit Robert Nef
Nebelspalter-Gespräch von Markus Somm mit Robert Nef vom 3.11.2021
Robert Nef: «Sozialhilfe ist etwas Ambivalentes: Wenn man jemandem dauernd hilft, macht man ihn von sich abhängig»
Nie würde er den Sozialstaat an sich in Frage stellen, vielmehr geht es wie so oft um das Mass: Robert Nef ist einer der alten, führenden Köpfe des schweizerischen Liberalismus. Er predigt Eigenverantwortung, er wirbt für den kleinen, zurückhaltenden Staat, er glaubt an die Würde des freien Individuums. Jahrzehntelang hat er umsichtig und unermüdlich das Liberale Institut geleitet – ohne damit viel Geld verdient zu haben. Immer ging es ihm um die Sache, nie, oder vielleicht fast nie um sich selbst. In dem Sinne hat der St. Galler Jurist Eigenverantwortung vorbildlich vorgelebt. Wie fällt seine Bilanz aus? Ist die Schweiz liberaler geworden, seit er jung war? Oder beobachten wir einen schleichenden intellektuellen Niedergang eines Landes, das so lange für so viele Liberale im Westen als eine uneinnehmbare Zitadelle gegolten hat? Nef wäre nicht Nef, bliebe er auch hier kein unerschütterlicher Optimist. Der das aber begründen kann. Ein Gespräch über Engagement, Eigenverantwortung und das Elend der Berufspolitik.