
Formen der Idee
Schach
Kinder spielen, Erwachsene arbeiten. Diese allgemeine Lebensregel gilt aber nicht für das königliche Spiel. Ich breche sie mit Vergnügen.
Der Gegenwart. — 13. September 2022
Für Nicht-Schachspieler ist die Begeisterung für dieses Spiel dennoch kaum nachvollziehbar. Ein Zuschauermagnet ist es schon gar nicht. Wer will schon stundenlang zusehen, wie zwei hochkonzentrierte Menschen auf ein Holzbrett starren und gefühlt nur alle halbe Stunde eine Figur bewegen? Zwar kennen viele die Grundregeln des Spiels aus ihrer Kindheit. Aber was sich wirklich abspielt auf dem Brett, erschließt sich nur dem Eingeweihten. Selbst professionelle Kommentatoren können oft nur raten, welche Pläne und Gedanken die Kontrahenten gerade in ihrem Kopf bewegen. Erst im nachhinein erschließt sich manchmal, welcher geniale Plan oder fatale Fehler die Partie entschieden hat. – Ganz anders aber ist es für die Spieler selbst. Wenn der erste Zug getan ist, tauchen sie ein in eine völlig andere Welt. Wahre Dramen spielen sich darin ab. Die unscheinbaren Holzfiguren werden plötzlich zu Monstern, Helden oder Opfern, die in unbarmherzigem Kampf ums Überleben ihres Königs kämpfen. Mehr noch, die Spieler selbst verschmelzen förmlich mit dem Schicksal ihrer „Steine“, wie Schachspieler die Figuren nennen. Ein gegnerischer Angriff wird nahezu als eine Bedrohung des eigenen Lebens erlebt. Angst, Verzweiflung, Erleichterung oder Triumph liegen oft nahe beieinander. Die Gefühlsregungen zeigen, mit welcher Leidenschaft und Erbitterung der Kampf auf den 64 schwarz-weißen Feldern ausgetragen wird. Schon ein einziger Zug kann das Spiel vollkommen umdrehen.
Ulrich van Suntum: „Überlebenskampf auf 64 Feldern“. Junge Freiheit, 15. Juli 2022
Nachts, wenn ich am Rechner vor dem Schachbrett sitze, kämpfe ich die Kämpfe meines Lebens. Sie dauern nur wenige Minuten, die Bedenkzeit ist auf jeweils 10 Minuten vereinbart. Gegner sind Unbekannte in der ganzen Welt. Wenn chinesische Schulkinder in der Pause mit dem Brettspiel online geistige Fingerübungen machen, wird manchmal meine Stellung zertrümmert, ehe ich richtig verstehe, wie mir geschieht. Matt.
Selbstverständlich melde ich mich bei Chess.com, meiner bevorzugten Plattform, nur als „Anfänger“ an. Ich verzichte auf ein jahrelanges Studium sämtlicher Eröffnungsvarianten bis zum 15. Zug, die auch durchschnittlich gute Schachspieler beherrschen sollten. Meine ELO-Zahl liegt bei ungefähr 1.400, was noch Lichtjahre von einem Schülermeister entfernt ist.
Aber ich kämpfe und habe Spaß daran. Ich spiele gegen Anonyme und online viel lieber als gegen wirkliche Menschen oder Freunde. Da das Ergebnis des Schachspiels immer zu klaren numerischen Zahlen führt, kann man schwer damit leben, dass ein Freund objektiv besser und klüger ist, wenn man etwas Ehrgeiz hat. Ich vermeide lieber die Situation, die nach einem Match eintritt, wenn man z. B. über sechs Partien deutlich 1:5 verloren hat und der Freund sein triumphierendes Lächeln versteckt. Oder man hat gegen seinen besten Freund 4½-½ gewonnen und muß seine Entschuldigungen und Ausflüchte anhören. Das macht keinen Spaß.
Möglichst alle Figuren entwickeln
Meine Strategie ist es, möglichst alle Figuren zu entwickeln und bei einem effektiven Angriffsspiel zusammenwirken zu lassen. Es hat keinen Sinn, nacheinander seine Figuren einzeln ins Feuer zu schicken.
Ja, ich greife an. Zwar ist die Gefahr nicht klein, dass man dabei ins Messer läuft, aber die meisten Gegner machen auch mal kapitale Fehler, so dass man in der Angriffsposition nicht nur die eigene Stärke, sondern auch die Schwächen des Gegners auf seiner Seite hat.
Weiterhin habe ich den Grundsatz verinnerlicht, dass es allein darauf ankommt, den gegnerischen König zu bedrohen und Matt zu setzen. Es kann schon mal vorkommen, dass ich den Gegenr mit einer Springergabel gewähren lasse, wenn er unbedingt meine beiden Türme in die Zange nehmen und schlagen will. Diese vier Züge des Gegeners nutze ich aus, um selbst einen tödlichen Angriff mit Dame und Läufer voranzubringen und abzuschließen.
Ich spiele intuitiv, d. h. ich nehme die Wirkungskreise der eigenen und der gegnerischen Figuren als waberndes Kräfteverhältnis wahr. Bestimmte Schwachpunkte des Gegners und meine eigene offene Flanke behalte ich im Auge und versuche, das Feuer meiner Truppen darauf zu richten.
Wenn sich die Figurenwalze näherschiebt
Von allen gespielten Partien in dieser Leistungsklasse „Anfänger“ gewinne ich etwa 40 Prozent, manche nach zähem Kampf. Etwa 30 Prozent verliere ich schmählich, versuche aber, daraus zu lernen. Beim Schach ist es ja so, dass sich die gegnerische Figurenwalze eines Könners unerbittlich näherschiebt und dem Laien keine Abwehrmöglichkeit bleibt. Man sieht einfach nicht den objektiv besten Zug, der in Millionen Partien bereits von Großmeistern ausgetestet wäre.
Eine eigene Figur nach der anderen wird einfach weggeputzt, ehe man es sich versieht. Dann gibt man auf und eröffnet eine neue Partie gegen den nächsten Unbekannten. Man kann sich auch anmelden und gegen Bekannte und Freunde spielen, ich schätze aber sehr das Unvorhergesehene – den Grat zwischen Triumpf und Fiasko.
Man sollte nicht den Kampf scheuen, denn wie im Fußball, wo das Spiel so lange dauert, bis der Schiedsrichter abpfeift, ist auch das Schachspiel erst vorbei, wenn der Computer die Punkteverteilung anzeigt: 1-0 oder ½-½ oder 0-1. Auch ein überlegen erscheinender Gegner macht Fehler, patzt, und dann bekommt das eigene Spiel Aufwind und man rettet sich vielleicht in ein Dauerschach oder eine Zugwiederholung.
Auch wertvolles Material in die Schlacht werfen
Oft sieht man, dass der Gegner ein Opfer scheut. Für solche frischen Anfänger steht der Figurenverlust erst einmal außerhalb der Betrachtung, man will doch nichts freiwillig hergeben. Selbst zögere ich nicht, auch wertvolles Material in die Schlacht zu werfen, um den entscheidende Vorteil zu erlangen. Ehrlicherweise muß ich zugeben, dass meine Initiative manchmal schrecklich abgeschlagen wird und ich dann die Reste zusammenkratze, um meine Stellung zu retten und zu halten.
In meinen besten Partien tanze ich auf der Rasierklinge. Selbst über mehrere Züge hinweg nur einen Zug vom sicheren Mattgesetztwerden entfernt, trage ich einen vernichtenden Angriff vor, opfere eine Figur nach der anderen für Raum- und Positionsgewinne, behaupte den Zeitgewinn und rette mich mit dem Matt ins Ziel. Wenn ich dann das Brett betrachte, sehe ich erst, welche Einschlagmöglichkeiten ich offenlassen mußte, in die der Gegner in einem Moment meiner Schwäche sofort brachial eingebrochen wäre.
Jedesmal ein bißchen Lampenfieber
Es ist ein edles Spiel, das ich genieße, das mich aber nicht verleitet, beliebig und uninspiriert herumzuziehen. Auch die Tatsache, dass man jederzeit die Partie beenden und eine neue beginnen kann, läßt mich nicht schluderig werden. Jede Partie ist eine ernste Aufgabe. Ich hab jedesmal ein bißchen Lampenfieber und sehe schon nach den ersten zwei, drei Eröffnungszügen, meist mit Damen- oder Königsbauern, wie der Gegner in die Partie geht, welche Stärke er einbringt und wieviel Übersicht und Erfahrung er hat.
Die übelsten Eröffnungsfallen habe ich mittlerweile zu überstehen gelernt. Es gibt durchaus Gegner, die es nur auf solches Überraschungsmoment angelegt haben und nach dem Abschlagen ihres durchsichtigen und banausischen Tricks selbst aufgeben und aus der Partie verschwinden.
Dann geht es eben wieder von vorn los, mit der Hoffnung auf einen niveauvollen, großen Kampf.
Meine Beispielpartien
Es muß nicht nochmal betont werden, dass ich selbstverständlich viele Partien verliere. Ja, ich übersehe auch mal meine bedrohte Dame – und – zack! – isse weg. Dann ist die Partie meist sinnlos und vorbei. Meine Beispiele sollen aber anhand einiger gewonnener Partien zeigen, welche Schönheit und Eleganz mit den Figuren möglich ist, auch wenn es keine Jahrhundert-Partien sind.
Diagramm 1 – Sieg mit Weiß bei gleichem Material. Nur einen Wimperschlag vom schwarzen Mattsetzen De2 entfernt, zog Weiß Dg7-g6.
Diagramm 2 – Während Weiß seine Streitmacht wirkungslos mittig auf der Grundlinie geballt aufgestellt hat, trägt Schwarz aus gesicherter Position ein „Fern“-Matt vor.
Diagramm 3 – Weiß, mit leichtem Materialvorteil, hat sich ganz auf den Angriff seines Läufers auf die Dame konzentriert. Die im 25. Zug noch auf ihren Ausgangspositionen stehenden Turm und Springer können den Mattangriff von Schwarz mit Td1 nicht abwehren.
Diagramm 4 – Statt mit dem Läufer Lb4 die weiße Dame De1 zu verspeisen, zieht er besser zum Finale auf Lc5.
Diagramm 5 – Auch im frühen Stadium beim 7. Zug nimmt man die Gelegenheit zu einem Sieg doch mit. Weiß hat sich zwar verbarrikadiert, kann aber das Einfallsloch von Lc5-e3 doch nicht abdecken.
Diagramm 6 – Schneller sein als der Gegner. Die schwarze Dame nimmt dem eigenen Läufer Ld8 die Wirkung. Die Streitmacht von Schwarz ist unzureichend entwickelt und kann seinen König nicht verteidigen.
Diagramm 7 – Die schwarze Dame schlägt tief ins weiße Herz auf Dh1 ein. Die schwarzen Figuren konzentrieren sich alle auf den weißen König, während Weiß sich im 19. Zug der Partie wirkungslos in der fernen Ecke aggregiert.
Diagramm 8 – Auch wenn es seltsam aussieht – so ist das Leben und das ist Matt. Den Einschlagpunkt von Sg5-f7 muß man erstmal sehen, aber die Gabel war wohl als Materialgewinn gedacht und der Computer zeigte sofort das Matt an. Selbst überrascht. Schwarz hatte einen Turm für einen Springer leichten Materialvorteil, wenn man das unwesentliche Bauernverhältnis von 5:7 unberücksichtigt läßt.
Diagramm 9 – Noch alle Figuen auf dem Brett. Das unbedachte Vorschieben der Bauernbarrikade hat das Einschlagloch für Dd3-g6 geöffnet. Weiß hatte den Läufer Le5 angegriffen und damit die Verteidigung seines Königs entblößt.
Diagramm 10 – Klar in Material- und Positionsnachteil kommt der kurzschrittige Gewinnzug Dd1-c2. Die Schlag- und Schach-Möglichkeit vom La3-xc5+ ist Makulatur.
Diagramm 11 – Schwarz klar im Materialnachteil, aber in Angriffsformation. Der herangezogene Turm auf Td1 kann die weiße Dame nicht auf Distanz halten, sie geht unbeeindruckt einen Schritt weiter. Die Figuren um den weißen König stehen nur wirkungslos dabei, während die weiße Dame auf Dh1 zwar den schwarzen Turm geschluckt hat, ohne Verstärkung aber nichts weiter bestellen kann.
Diagramm 12 – Materiell schwer in Bedrängnis für Schwarz eine Partie auf Messers Schneide. Und die eigenen schwarzen Figuren stehen zumeist ungedeckt! Selbst vom Turm Te1 anvisiert, der dann weiter auf Springer Se7 drücken würde, wird der Läufer Le4 zum Schutzpatron des angreifenden Turms Th1. Dabei hatte Weiß alle Trümpfe in der Hand.
Diagramm 13 – Statt weiter mit unterlegenem Material – Weiß verfügt über einen Läufer mehr – sich dem Bauern e5 entgegenzustellen, nutzt Schwarz mit dem Turm Te8-h8 die Konstellation der ungedeckten weißen Dame vor ihrem König. Zwar kann noch der Läufer dazwischengestellt werden, aber dem schwarze Druck kann nicht mehr standgehalten werden. Weiß gab auf.
Diagramm 14 – Der Angriff von Schwarz wirkt zwar bedrohlich und ist auch mit Materialgewinn verbunden – es steht bereits ein Übergewicht von einem Turm und einem Springer zu Buche –, aber die Defensive wurde vernachlässigt. Beide Türme stehen noch im 24. Zug auf ihren Ausgangspositionen, während der König bereits eine Wanderung an den Brettrand hinter sich hat. Die weiße Dame setzt mit De6-f7 matt.
Diagramm 15 – Schwarz muß mit seiner Dame das „erstickte Matt“ von Springer Sf7 verhindern und sich opfern. Der Sieg von Weiß ist dann nur noch Formsache, deshalb hat Schwarz aufgegeben.
Diagramm 16 – Der weiße König wurde durch konzentriertes Feuer von Dame und Läufer Lg3 aus seiner Wohlfühlzone vertrieben und nun mit einem langen Zug Dh4-a4 mattgesetzt.
(Alle Partien gespielt mit https://www.chess.com/play/online)
Das Schachspiel
übertrifft alle anderen Spiele so weit wie der Chimborasso einen Misthaufen.
Arthur Schopenhauer
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Das Schachspiel ist ein See, in welchem eine Mücke baden und ein Elefant ertrinken kann.
Sprichwort aus Indien
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Schach ist das Spiel, das die Verrückten gesund hält.
Albert Einstein
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Zum Glück für die vielen, die nicht leben können und nicht sterben wollen, gibt es eine dritte Möglichkeit: die Zeit am Schachbrett zu verbringen.
Hjalmar Söderberg
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Man hat vom Schach gesagt, dass das Leben nicht lang genug dazu ist, – aber das ist ein Fehler des Lebens, nicht des Schachs.
Christian Morgenstern
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Das königliche Spiel
Schach (von persisch šāh, ‚Schah, König‘ – daher die Bezeichnung das königliche Spiel) oder Schachspiel ist ein strategisches Brettspiel, bei dem zwei Spieler abwechselnd Spielsteine (die Schachfiguren) auf einem Spielbrett (dem Schachbrett) bewegen. Ziel des Spiels ist es, den Gegner schachmatt zu setzen, das heißt, dessen König so anzugreifen, dass diesem weder Abwehr noch Flucht möglich ist.
Schach ist weltweit bekannt und hat eine tiefe kulturelle Bedeutung erlangt. Es ist vom Internationalen Olympischen Komitee als Sport anerkannt. Viele Schachspieler sind Mitglieder von Schachvereinen, die ihrerseits regionalen und nationalen Schachverbänden angehören und sich weltweit im Weltschachbund (FIDE) zusammengeschlossen haben. Schachturniere werden von privaten Veranstaltern, von Schachvereinen oder von Schachverbänden organisiert. Derzeitiger Schachweltmeister ist Magnus Carlsen (Norwegen). Derzeitige Schachweltmeisterin ist Ju Wenjun (China). (Wikipedia)
Deep Blue vs. Kasparow
»Die speziell entwickelte Schachmaschine Deep Blue von IBM schlug 1997 in einem Wettkampf über sechs Partien mit Turnierbedenkzeit sogar den damaligen Schachweltmeister Kasparow. Viele Großmeister versuchten in Partien gegen Computer ein spezielles „Anticomputerschach“ anzuwenden, das auf langfristige Manöver, deren Zielsetzungen für den Computer im Rahmen seiner Rechentiefe nicht erkennbar waren, angelegt war. Es erwies sich aber, dass der Mensch gegen die stetig anwachsende Rechenkraft der Computer nicht bestehen konnte.« (Wikipedia)
Online-Schach
Einfach ohne Anmeldung sofort loslegen: Chess.com
Informationen zu Chess.com auf Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Chess.com
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Man muss nicht gut spielen, es reicht, besser zu spielen als der Gegner.
Siegbert Tarrasch
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Schach-Computer?
Es ist nicht das erste Mal, dass Betrugsvorwürfe gegen Hans Niemann laut werden. In der Vergangenheit wurde der US-Amerikaner Gerüchten zufolge schon zweimal von der Plattform chess.com verbannt, weil er während seiner Spiele die Hilfe eines Schach-Computers in Anspruch genommen haben soll – ein absolutes No-Go und strengstens untersagt. In Kreisen der Top-Spieler habe sich dies bereits herumgesprochen, hieß es auf einem bekannten Twitter-Account, der Schach-Content postet.