Hinweise auf Menschen
Selma Merbaum
Das Vermächtnis der 18-Jährigen aus Czernowitz sind 57 zeitlose Gedichte – »Weltliteratur, die die Welt nicht kennt«.
Der Gegenwart. — 13. September 2024
Selma Merbaum war die Tochter des Schuhhändlers Max Merbaum und seiner Frau Friederika, geborene Schrager. Sie war die Cousine 2. Grades von Paul Celan – die Väter der Mütter waren Brüder. Als Selma neun Monate alt war, starb ihr Vater. Ihre Mutter heiratete drei Jahre später Leo Eisinger. Es gibt keinen Beleg dafür, dass dieser Selma Merbaum juristisch adoptiert hätte.
Selma Merbaum besuchte von 1934 bis 1940 das ehemals private jüdische Mädchenlyzeum, das Hofmann-Lyzeum. Dieses wurde mit allen Czernowitzer Schulen „gleichgeschaltet“ und somit ein staatlich anerkanntes rumänisches Mädchengymnasium.
Schon früh begann Selma mit der Lektüre jener Autoren, die großen Einfluss auf ihr eigenes Werk ausüben sollten: Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Klabund, Paul Verlaine und Rabindranath Tagore. Eigene Gedichte von Selma Merbaum sind ab 1939 erhalten. Sie übersetzte auch aus dem Französischen, Rumänischen und Jiddischen.
1940 wurde Czernowitz im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes von Rumänien an die Sowjetunion abgetreten. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges marschierten im Juli 1941 rumänische Truppen wieder in Czernowitz ein. Am 11. Oktober 1941 wurde ein Zwangsghetto in Czernowitz eingerichtet, in dem sich alle Juden der Stadt einzufinden hatten, so auch Selma, ihre Mutter und ihr Stiefvater Leo Eisinger. Aus diesem Ghetto wurden innerhalb von sechs Wochen 28.700 Juden in das von Rumänien annektierte Gouvernement Transnistrien deportiert, bis die Züge durch den Wintereinbruch blockiert wurden. Deportationen und Seuchen hatten die jüdische Bevölkerung so dezimiert, dass die Ghettoschranken aufgehoben wurden. Von den 20.000 überlebenden Juden konnten nur wenige in ihre alten Wohnungen zurückkehren, denn die waren verwüstet und geplündert worden.
Im Juni 1942 setzten die Deportationen wieder ein. Selma Merbaum, Mutter und Stiefvater wurden am 28. Juni abgeholt. Sie wurden in Viehwaggons verfrachtet und am Ufer des Flusses Dnjestr abgesetzt, am nächsten Morgen über den Fluss getrieben, erneut in Züge verladen und zum Lager Cariera de Piatra (Steinbruch am Bug) getrieben. Im August 1942 schickte die SS 1150 Häftlinge in den Zwangsarbeitsdienst, mit 500 Leidensgenossen landeten Selma Merbaum und ihre Eltern im Zwangsarbeitslager Michailowka am Ostufer des Bug, das der deutschen SS unterstand. Die Häftlinge mussten beim Bau der Durchgangsstraße IV, einer Schotterpiste, die bis in den Kaukasus reichen sollte, Schwerstarbeit verrichten. Selma Merbaum starb am 16. Dezember 1942 entkräftet an Fleckfieber.
Werk
Bei Selma Merbaums überlieferten Gedichten handelt es sich vorwiegend um impressionistische Liebes- und Naturlyrik. Sie sind von beachtlicher Stilsicherheit und durchgängig von einer melancholischen Grundstimmung geprägt. Merbaums Lyrik gehört neben den Gedichten Rose Ausländers und Paul Celans zum literarischen Erbe der von den Nationalsozialisten ausgelöschten deutsch-jüdischen Kultur der Bukowina.
Das schmale Werk umfasst 57 Gedichte, die sie sorgfältig mit einem Füllhalter auf Einzelseiten geschrieben und zu einem Album gebunden hatte, das sie mit „Blütenlese“ betitelte. Sie widmete es ihrem Freund Leiser Fichmann aus der zionistischen Jugendgruppe Hashomer Hazair. Auf dem Weg in die Deportation konnte sie das Album einem Bekannten zustecken, der es ihrer Freundin Else Schächter (1924–1995) mit der Bitte gab, es an Leiser weiterzureichen. Leiser nahm das Album mit ins Arbeitslager, doch gab er es Schächter zurück, als er sich 1944 zur Flucht nach Palästina entschloss. Der Motorsegler Mefküre wurde am 4. August 1944 torpediert, nur die Besatzung und fünf Passagiere überlebten – Leiser nicht. Doch Selma Merbaums Gedichte und ihr letzter Brief aus dem Lager am Steinbruch wurden von ihren Freundinnen Renée und Else durch Europa bis nach Israel getragen.
Veröffentlicht werden konnten Werke in der ‚Sprache der Mörder‘ nicht. Merbaums Gedichte lagen in einem Banksafe. Hersch Segal, ihr Lehrer von der Jiddischen Schule in Czernowitz, war 1968 in Israel in der Anthologie Welch Wort in die Kälte gerufen auf ihr Gedicht Poem gestoßen. Segal machte Merbaums Freundinnen Renée Abramovici-Michaeli und Else Schächter-Keren ausfindig, die ihm 1976 erlaubten, Merbaums Gedichte einmalig als Privatdruck zu veröffentlichen.
Die eigentliche Entdeckung Selma Merbaums erfolgte im Mai 1980 durch die Stern-Reportage des Journalisten und Exil-Forschers Jürgen Serke. Er war von Hilde Domin auf die Gedichte aufmerksam gemacht worden. Serke veröffentlichte die Gedichte der Lyrikerin unter dem Titel Ich bin in Sehnsucht eingehüllt bei Hoffmann und Campe.
Gedenken
Im Gedenken an die Autorin schrieben der Bundesverband junger Autoren und Autorinnen, die Armin T. Wegner Gesellschaft und die Kölner Autorengruppe Faust Ende 2010 den „Selma Meerbaum-Eisinger Literaturpreis“ aus, der 2011 zum ersten Mal vergeben wurde. Der Anne Frank-Fonds unterstützt die Preisvergabe.
Iris Berben fuhr 2011 nach Czernowitz (Ukraine) und trug die Gedichte dort vor, wo sie entstanden sind.
Das Familienzentrum der evangelischen Kirchengemeinde Tiergarten in Siegmunds Hof 20 in Berlin-Tiergarten ist nach der Dichterin „Meerbaum-Haus“ benannt.
Die Czernowitzer Jugendfreundin von Selma Meerbaum-Eisinger, Else Keren geb. Schächter, widmete das Gedicht Sie trieben meine Schwester ihrer früheren Freundin.
Textgrundlage: https://de.wikipedia.org/wiki/Selma_Meerbaum-Eisinger
Selma Merbaum (1924–1942)
Foto: Wikimedia
Welke Blätter
Selma Merbaum • 24. September 1939
Plötzlich hallt mein Schritt nicht mehr,
sondern rauschet leise, leise,
wie die tränenvolle Weise,
die ich sing’, von Sehnsucht schwer.
Unter meinen müden Beinen,
die ich hebe wie im Traum,
liegen tot und voll von Weinen
Blätter von dem großen Baum.
Lebensdaten
Selma Merbaum (geboren 5. Februar 1924 in Czernowitz, Königreich Rumänien; gestorben 16. Dezember 1942 im Zwangsarbeitslager Michailowka, Königreich Rumänien; heute Ukraine) war eine rumänische deutschsprachige Dichterin. Selma Merbaum war der Name im jüdischen Geburtsregister und in allen Schulunterlagen und Zeugnissen; posthum wird sie überwiegend Selma Meerbaum-Eisinger genannt. Als verfolgte Jüdin starb sie achtzehnjährig entkräftet am Fleckfieber. Ihr Werk wird mittlerweile zur Weltliteratur gezählt. (Wikipedia)
Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell und so bedroht.
Blütenlese
Selma – In Sehnsucht eingehüllt. Top-Stars vertonen Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger. (David Klein; 31.7.2007; 9:58 min.)
»Vor über 60 Jahren schrieb das damals 15-jährige jüdische Mädchen Selma Meerbaum-Eisinger Gedichte über ihre erste Liebe, die mehr Traum als Wirklichkeit war. Gedichte von sehnsüchtig-melodischer Musikalität und großer poetischer Kraft. Selma Meerbaum-Eisinger hinterließ mit ihrem Gedichtband "Blütenlese" ein Stück Weltliteratur, als sie 1942 mit nur 18 Jahren in einem Konzentrationslager starb. Geschrieben in einer dunklen Epoche, klingen ihre Gedichte heute noch immer frisch und lebendig. Die Gefühle eines jungen Mädchens, festgehalten 1941, werden Jahrzehnte später in gleichem Maße gelebt. Selma Meerbaum-Eisinger – eine Cousine des Dichters Paul Celan – nahm die fragilen Kunstwerke mit in ihren frühen Tod, doch 57 ihrer zeitlosen Gedichte sind auf abenteuerliche Weise gerettet worden.
Der schweizer Musiker David Klein hat Selmas Gedichte vertont und zwölf der renommiertesten deutschen Sängerinnen und Sänger aus allen Generationen haben Selma ihre Stimme gegeben, um sie mehr als sechzig Jahre nach ihrem Tod wieder lebendig werden zu lassen. Sie interpretieren die subtilen Wortgefüge so behutsam und respektvoll, als wollten sie dem Glanz dieser jugendlichen Poesie nicht die Leuchtkraft nehmen. Zusammen mit dem David Klein Quintet, vielen Gastmusikern und Symphonieorchester haben sie unvergessliche Lieder geschaffen, die tief ins Herz gehen.
Mit: Sarah Connor (erstmals auf Deutsch), Xavier Naidoo, Yvonne Catterfeld, Reinhard Mey, Hartmut Engler (Pur), Thomas D (Die Fantastischen Vier), Joy Denalane, Jasmin Tabatabai, Volkan Baydar (Orange Blue), Inga Humpe (2raumwohnung), Stefanie Kloß (Silbermond) und Ute Lemper.
Selma Meerbaum-Eisinger gehört zusammen mit Rose Ausländer und Paul Celan zum literarischen Dreigestirn von Czernowitz. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verfolgung schrieb die junge Lyrikerin Gedichte, die in ihrer künstlerischen Reife und zeitlosen Ästhetik weit mehr sind, als nur ein Zeugnis der drohenden Vernichtung des osteuropäischen Judentums und seines blühenden kulturellen Lebens.
Die Poesie Selma Meerbaum-Eisingers drückt Sehnsucht, Hoffnung und Lebenswillen aus, was ihrem Werk eine immerwährende Gültigkeit und zeitübergreifende Aktualität verleiht. In reiner, klarer, eindringlicher Sprache erzählen die Gedichte von den Gefühlen und Träumen eines jungen Mädchens an der Schwelle des Erwachsenwerdens und über das zarte Glück der ersten Liebe. Die Ehrfurcht vor der Schönheit und lebendigen Kraft der Natur sind genauso Thema wie die Allgegenwärtigkeit von Tod und Trauer.
Trotz ihres sehnsuchtsvollen Grundtenors sind die Gedichte mehr als die schwärmerische Liebeslyrik eines jungen, lebensfrohen Mädchens, mehr als Nachahmungen der Naturdichtung ihrer romantischen Vorbilder Rilke, Heine und Tagore und mehr als eine Dokumentation der Vernichtung jüdischen Lebens in der Bukowina.
Das Werk Meerbaum-Eisingers verdankt seine Faszination der Spannung zwischen mädchenhaft-jugendlicher und gesellschaftlich-historischer Thematik, seiner Bandbreite von Motiven und Bildern sowie der Eigenständigkeit in seiner formalen Umsetzung und Ästhetik. So spricht Rose Ausländer selbst über die Lyrik ihrer Dichterkollegin von „Weltliteratur, die die Welt nicht kennt“.«
Mehr über Selma Merbaum
▬ Webseite zum Gedenken an Selma Merbaum ⋙ Link
▬ Fembio e.V.: Biographie von Selma Merbaum und viele weitere Literatur- und Quellen-Hinweise ⋙ Link