So steht es geschrieben
Der Zorn
Detektive treffen auf unsichtbare Menschen und skurrile Mittelalter-Leute. Der Roman von Tarik Schwenke inszeniert einen rätselhaften Strudel der Angst und deutet auf die Frage hin: Ist das Böse nicht vielleicht das Gute?
Der Gegenwart. — 27. Februar 2024
L E S E P R O B E
Das Licht
Auf dem Marktplatz staunten die Menschen nicht schlecht. Viel zu viele drängelten sich auf ihm, direkt an der wunderschön gepflegten Hugenottenkirche, vor der zwei Bänke zum Sitzen einladen. In den letzten Tagen siegte die Sonne im Kampf gegen den spät winterlichen Nebel und ein angenehmer Hauch von Frühling wehte den Sonnenanbetern um die blassen Nasen. Einige Sonnenhungrige hatten bereits leicht an Farbe zugelegt oder Sommersprossen blühten auf, sogar kleine Schweißtropfen auf der Stirne spiegelten die nach den winterlichen Monaten inzwischen deutlich höherstehende Sonne wider. Die Menge bestaunte eine junge Dame in einem auffälligen Kleid, das ganz offensichtlich auf einem Kleiderbügel auf der Kleiderstange gehängt haben musste, der für Frühlingszwecke zugeteilt war. Ihre langen, tiefschwarzen und glatten Haare reichten weit über ihre Schultern hinaus. Sie steuerte den Springbrunnen an, aus dem das erste frische Wasser der Saison sprudelte und fast senkrecht hinabfiel. Sie griff mit ihrer rechten Hand ins Wasser und lächelte zufrieden. Zwischendurch glitt sie mit ihren nassen Fingern über ihre Stirn, um sie ein wenig zu kühlen. Beide Hände waren in das Wasser eingetaucht und sie murmelte etwas vor sich her. Interessierte Blicke streiften über den Marktplatz und fanden ihr Ziel am Springbrunnen. Dort, so machte es den Eindruck, reflektierte die Sonne nicht nur auf dem Wasser des Springbrunnens, sondern auch auf der Oberfläche des Kleides der bestaunten Frau. Ein wenig später wurden die staunenden Augen noch größer, da die Leuchtkraft nicht mehr allein auf das Kleid beschränkt war. Die ohnehin starke Sonne wurde auf ihrer Haut verstärkt, wie durch ein Brennglas intensiviert und gebündelt. Ihr gesamtes Umfeld erhellte sich um ein Vielfaches. Einige der ihr umherstehenden, zuschauenden Menschen kniffen die Augen zusammen oder schauten weg. Sonnenbrillenträger waren ganz klar im Vorteil. Auf dem Marktplatz war Ruhe eingekehrt, wie sie um diese Uhrzeit bei strahlendem Sonnenschein in der Geschichte des Marktplatzes wahrscheinlich noch niemals aufgetreten war. Zwei Männer hielten ihren Hals, dabei verkrampften deren Gesichter, außerdem rangen sie nach Luft. Entweder war den anderen deren Not egal, oder sie konnten aus unerfindlichen Gründen nicht realisieren, dass zwei Männer in ihrer Mitte auf schrecklichem Wege waren zu ersticken. Beide sanken zu Boden und blieben regungslos liegen. Nach einer Weile hörte man sie tief ein- und ausatmen. Von dem Vorfall mitgenommen und weiterhin vom Licht geblendet, schafften sie es mit Mühe, eine Sitzposition einzunehmen.
Die Vögel zwitscherten und einige Autos fuhren hin und wieder die angrenzende Hauptstraße entlang. Das gesamte Schauspiel am und rund um den Marktplatz dauerte noch ein wenig an, erst danach verschwand die Leuchtende hinter der Kirche. Niemand kam auf die Idee, ihr zu folgen oder sie anzusprechen, stattdessen starrten die meisten Menschen weiterhin auf den leuchtenden Brunnen, als ob sie sich dort weiterhin befände. Ein alter Mann mit Hut, der in einem stilvollen, italienischen Restaurant am Marktplatz unter einem der großen Sonnenschirme saß, rief mit kratziger Stimme nach einem Glas Wasser. Der gewohnte Klangteppich von laut sprechenden Menschen rollte sich über dem Marktplatz aus. Bei genauem Zuhören sprach niemand über das zuvor Erlebte. Ein Kellner des Restaurants servierte dem Mann das Wasser, notierte die Bestellung weiterer Gäste, strahlte sie an und klopfte einigen wohlwollend auf die Schulter. Dann lächelte er dem Alten zu, der seinen Hut gerade neben sich auf den Nachbarstuhl legte und die freundliche Geste erwiderte.
Die letzten Minuten waren scheinbar
aus ihrer Erinnerung gestrichen.
Die beiden halb erstickten Männer auf dem Marktplatz taumelten zum Brunnen und schauten einige Sekunden wie gebannt in ihn hinein. Nachdem sie tief Luft holten und wie eine Kerze aufgerichtet den Marktplatz musterten, liefen sie zu ihrer Familie und Freunden hinüber. Die letzten Minuten waren scheinbar aus ihrer Erinnerung gestrichen. Sie fielen regelrecht über sie her und umarmten sie. Obwohl wegen des übertriebenen Liebesbeweises mit einer Abwehrhaltung zu rechnen gewesen sein müsste, erwiderten sie diesen mit Küssen. […]
Einer der Jungs vom Brunnen lief mit diesem Eindruck nach Hause Richtung Innenstadt, die steile Bahnhofstraße hinauf, an der Post vorbei und bog rechts ab. Am türkischen Supermarkt zögerte er kurz und entschied sich, dort etwas zu kaufen. Die Tüte mit 3 Äpfeln und 2 Orangen legte er auf die Theke und rief nach der Bedienung, doch niemand erschien. Er schaute sich um und sah zu seiner Verwunderung keine anderen Kunden. Sein Mobiltelefon zeigte 18:12 Uhr an und erfahrungsgemäß brachte der Berufsverkehr einige hungrige Menschen in den Laden, die, so wie er, den frischen Früchten, dem Gemüse und vielen anderen leckeren Lebensmitteln nicht widerstehen konnten. Der Junge machte noch etwas lauter auf sich aufmerksam, rief nach Unterstützung, klatschte mit den Händen, wunderte sich über diese obskure Situation und grinste. Eine andere Person betrat den Laden und versicherte dem Jungen, dass die Stadt fast wie ausgestorben sei. Die Ladentüren würden offenstehen, doch weder Verkäufer, Kunden oder Zulieferer seien zu finden. Zudem war es unheimlich ruhig. Sie deutete auf die Tüte mit Backwaren in ihrer Hand. Diese Sachen hätte sie sich von der Theke in der Bäckerei nehmen können. Hätte sie nicht bezahlt, wäre es niemand aufgefallen, aber sie sei ja eine anständige Bürgerin. Der Junge hatte den Eindruck, dass sie die einzigen Menschen weit und breit seien und erkannte die Frau mit den lockigen schwarzen Haaren vom Brunnen im Park. Es gefiel ihm, einer von sehr wenigen Menschen zu sein, die in dieser Stadt übriggeblieben waren. Mit der Tüte in der Hand bewegte er sich geistesabwesend auf die Tür zu, die mit einem Ruck verschlossen wurde und verriegelt blieb. Die Schwarzhaarige gab ihm den Rat, die Lebensmittel auf der Theke liegen zu lassen, zu bezahlen und erst dann die Tür zu öffnen. Er rief recht laut seine Entschuldigung durch den Laden, vermutete aber, dass ihn niemand hören konnte. Dann machte er es so, wie die Frau es ihm geraten hatte. Die Tür ließ sich daraufhin mit Leichtigkeit öffnen. Erstaunt schüttelte der Junge den Kopf, untersuchte das Schloss, setzte ein falsches Grinsen auf, blickte aus dem Fenster und anschließend glaubte er zu träumen. Es war ein obskurer und beängstigender Traum. Seine auflodernde Unbehaglichkeit war nicht durch die Situation im Laden zu erklären. Er bemerkte nun die führerlosen Autos, die sich auf den Straßen bewegten. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, er war fassungslos und rief fragend und anklagend über die Straße. Nein, in zwei Autos konnte er auch Männer und Frauen hinterm Steuer sitzen sehen. Er lief auf den nächsten, angrenzenden Supermarkt zu, bog rechts ab und überquerte auf der kleinen Holzbrücke den Bach, an dessen Seite wie gewohnt weggeworfene Trinktüten lagen. Niemand war anwesend. Die lockige Frau war die letzte Person, die ihm zumindest den Beweis gab, dass er nicht allein auf dieser Welt war oder seinen Verstand verloren hätte. Ein anderer, fürchterlicher Gedanke gab seinem Bewusstsein einen neuen Impuls. Vielleicht war die Frau tatsächlich vorhanden, oder möglicherweise befand er sich in mitten eines Albtraumes. Wie ferngesteuert lief er weiter durch die Straßen. Obwohl er in den letzten Minuten und Sekunden Dinge gesehen, Sachen erlebt und mit Menschen gesprochen hatte, die ungewöhnlich waren und extrem beängstigend hätten sein müssen, hatte er sich einigermaßen im Griff und grübelte unentwegt. Vielleicht schützte ihn sein Bewusstsein vor seinem Unterbewusstsein. Wenig später brach schleichende Angst über ihn herein, die zu seiner Verwunderung in Geborgenheit umschlug, ein warmer Strom durchflutete seine Glieder. Sein weiterer Heimweg führte an Schrebergärten vorbei, eine lange Treppe hinauf und endete am Marktplatz mit dem leuchtenden Brunnen, den er kaum wahrnahm. Er gehörte bereits zur Selbstverständlichkeit dieses verstörenden Tages. In der übernächsten Seitenstraße öffnete er die Haustür. Niemand war Zuhause. […]
Die Waffe richtete er nun in Richtung
der Schalter und drückte ab.
Murat und Erkan waren in ihrem eigenen Film und hatten den Vorgang im Vorraum ausgeblendet. Ihnen ging es um den schnellen Raub und eine große Beute. Der Schuss aus der Pistole hatte in ihnen eine neue, eine radikalere Denkweise hervorgebracht. So wie vorab ihrem Kollegen Django, war nun auch ihnen jedes Mittel recht, auf noch radikalere Weise einen echten Coup zu landen. Murat wurde ungeduldig, lief in den Vorraum und fragte Django nach der Pistole. Er deutete auf die Blutlache. Murat tastete Herr Lorenz ab und wurde fündig. Die Waffe richtete er nun in Richtung der Schalter und drückte ab. Das Geschoss schlug nur wenige Zentimeter über dem Kopf eines Bankmitarbeiters in die Wand ein. Drei weitere Geschosse flogen durch die Luft, zwei davon bohrten sich über dem Kopf eines anderen Bänkers in die Wand. Das Dritte feuerte Murat einige Sekunden später ab, diesmal wollte er sich mehr wagen. Seine Erfahrung mit einer Schusswaffe war nicht sehr groß. Die von ihm anvisierten Punkte an der Wand traf er ganz gut, dachte er. Nun sollte eine Kugel neben einem der beiden Mitarbeiter in einen Computerbildschirm einschlagen. Sein linkes Auge hatte er geschlossen, doch welches war sein Zielauge? Er konnte sich nicht mehr erinnern, wechselte hin und her, bis er sich ungeduldig für eines der beiden Augen entschied. Er traf den Mitarbeiter am Hals. Blut spritzte von dem zerfetzten Gewebe seines linken Halsstranges gegen den Bildschirm. Sein Kollege, der die Tüte mit dem Geld in diesem Moment über den Schalter hob, erschreckte sich so sehr, dass er nach hinten zurücksprang und auf den Boden fiel. Dabei öffnete sich die Tüte und ein großer Teil des Geldes landete neben ihm.
»Scheiße, falsches Zielauge«, rutschte ihm heraus. Murat war fassungslos über seine fehlende Empathie. Der angeschossene Mitarbeiter war hinter dem Schalter zusammengebrochen, noch halb bei Bewusstsein und drückte etwas gegen seine klaffende Wunde am Hals. Sein Kollege sprang panisch umher und wählte die Nummer des Rettungsdienstes.
»Unfassbar, wie kann das sein.«, schrie er verwundert, »Markus, der Krankenwagen ist schon da. Der Krankenwagen ist schon da. Halte noch ein paar Sekunden aus. Hörst du? Halte noch ein paar Sekunden ...«, sein Kollege hatte das Bewusstsein verloren. Nun musste er für ihn handeln und mit seiner Hand die Wunde abdrücken. Beide saßen inzwischen im ausströmenden Blut von Markus, auch das Geld aus der Tüte lag teilweise darin. Beim Anblick seines Kollegen, pochte sein Herz immer schneller.
Einige der weniger mit Blut beschmierten
Geldscheine kratzte er zusammen.
»Hey man, kommt hierher. Mein Kollege verblutet und hat sein Bewusstsein verloren. Ich schaffe es nicht alleine, ihn hinter dem Schalter hervorzuziehen. Hallo? Scheiße. Es ist dringend. Mein Kollege verblutet«, brüllte er durch den Raum. Zwei Sanitäter betrachteten Herrn Lorenz im Vorraum und hoben ihn auf eine Bare, ein weiterer hörte die Angstschreie und erspähte die beiden jungen Männer auf dem Boden hinterm Schalter.
»Kommt her, es muss sehr schnell gehen!«
Murat war durcheinander. Django und Pappi erinnerten ihn mit einem Klopfen auf den Rücken daran, dass sie die Beute sichern mussten. Murat und Django drängelten sich zwischen den Sanitätern, Markus und seinem Kollegen hindurch. Django hielt ihnen bedrohlich die Waffe vors Gesicht. Murat packte die Tüte. Einige der weniger mit Blut beschmierten Geldscheine kratzte er zusammen und steckte sie in seine Hosentasche. Django schaute Murat wie paralysiert dabei zu.
»Murat, wo kommt so viel fucking Blut her?«
»Was denkst du? Du Spasti! Wie dumm kann man sein?«, Murat schüttelte seinen Kopf.
Django war von der immer größeren Blutmenge am Boden fasziniert. Er bewunderte es. Die blutigen Geldscheine brachten seine ruchlosesten Gefühle und Gedanken hervor. Eine Masse, bestehend aus Blut und Geld, war das Schönste, dass er bis zu dem heutigen Tage jemals gesehen hatte. Zu gerne hätte er gewusst, ob dieses Kunstwerk einen speziellen Geruch absonderte. Später müsste er diesem reizvollen Gedanken auf den Grund gehen, so dachte er unentwegt. Alle diese Duftstoffe müssten möglichst intensiv mit seinen Geruchsrezeptoren auf der Schleimhaut aufgefangen werden. Etwas Schöneres konnte er sich nicht vorstellen. […]
»Ich habe Angst.«, sagte Aysha. Stefanie bestätigte diese Gefühle. Ihre Hände berührten sich und verschmolzen sofort zu einem festen Handklumpen. Ihre Ängste flauten ab. Die Enttäuschung über das Ausbleiben einer Botschaft an die versammelten vier Frauen schwoll weiter an. Die Blicke der Leuchtgestalt waren auf kein bestimmtes Ziel gerichtet. Aysha glaubte, sie nach etwas Bestimmten suchen zu sehen. Was war es nur? Wenn es die vier Frauen gewesen wären, hätte sie sie doch längst in ihre Pläne eingeweiht. Ein kurzes Lächeln wanderte durch ihr Gesicht. Sie wunderte sich nicht darüber, dass diese magische Kraft, diese magische Frau, diese magische und mächtige Frau, sich mit einem solchen Frauensalat abgeben wollte. Gleichzeitig musste sie ein anderes Ziel vor Augen haben, denn ihr dramatisches Erscheinen war sicherlich nicht zufällig. Die Synapsen in Ayshas Kopf waren wie elektrisiert, denn sie dachte über die Begegnung mit den Frauenstimmen am Brunnen nach. Dort hatte sie alles mitgehört und nur deshalb befanden sie sich nun unmittelbar vor dieser unfassbaren Gestalt am Himmel. Wo waren die vier Frauen? Warum gab es keinen Kontakt zwischen ihnen und der Leuchtgestalt? Waren sie tatsächlich verschwunden?
Er oder sie wäre ein Geblendeter
in einer weltfremden Realität.
»Nein, das kann nicht stimmen. Bei allem, was bislang geschehen war, niemand verschwand spurlos. Sollte ein Jemand nicht mehr in der weltlichen Realität sein, wurde er zuvor geblendet. Er oder sie wäre demnach, so wie viele Menschen in und um Usingen, ein Geblendeter in einer weltfremden Realität. Dennoch, niemand war bislang komplett verschwunden? Nein!«
»Doch!« Aysha hörte eine Stimme flüstern.
»Stefanie, hast Du etwas gesagt?«
»Was? Ich? Nein«, antwortete sie.
»Ich aber.«
»Wer ist denn noch hier? Bist du eine der vier Frauen aus dem Auto?«
»Nein, aber du kommst der Sache langsam näher.«
»Aysha, mit wem redest du?«, erkundigte sich Stefanie.
»Ich weiß es nicht.« Ayshas Stimme schaukelte, sie klang verzweifelt.
»Du brauchst keine Angst haben.«, flüsterte eine Stimme ihr zu, die sich nun leicht von der vorherigen unterschied.
»Aysha, schau mal!«, schrie Stefanie laut. Dabei zeigte sie auf das Hologramm. Aysha, die Stefanie in der totalen Dunkelheit nicht erkennen konnte, wusste nicht, was sie meinte und fragte nach.
»Na schau mal nach oben, wir werden offenbar gesehen!« Stefanie sprach wie ein sehr aufgeregter Sportkommentator.
»Sie hat Recht, ich habe euch im Fokus. Ihr habt Geist und Willenskraft. Außerdem seid ihr auf meiner Seite und das betrachte ich als ein Geschenk.« Das Hologramm sprach ganz klar zu ihnen. Aysha drehte sich herum und suchte nach anderen Menschen, mit denen sie hätte kommunizieren können. Niemand war zu sehen, sie selbst musste gemeint sein.
»Wo sind die anderen Frauen? Wolltest du nicht mit ihnen eine ...«, sie zögerte kurz und sprach danach verunsichert weiter, »Wolltest du nicht mit ihnen so etwas wie eine Seance durchführen?« Stefanie fühlte sich weiterhin angesprochen, sie konnte die Worte des Hologramms nicht hören.
»Warum kann meine Freundin dich nicht hören?«
»Weil ich dich ausgesucht habe«, antwortete das Hologramm.
»Ausgesucht? Für was hast du mich ausgesucht?«
Stefanie begriff plötzlich, dass sie in dem Gespräch zwischen ihrer Freundin und dieser leuchtenden Gestalt, in Form eines Hologramms, außen vor war.
»Wie ich zuvor bereits gesagt habe, du bist ein ...«, die leuchtende Frau lächelte freundlich, » …sehr guter Mensch und hast erstaunlich viel Kraft.«
»Ich?« Ayshas Ego tanzte im Kreis. So etwas hatte niemals jemand zu ihr gesagt. Selbst ihre Eltern oder Geschwister hatten sie nur selten mit einem Kompliment erfreut. Die Kälte in und um sie herum wich allmählich und hinterließ genug Raum für ein wohliges Gefühl des Stolzes.
Deine Aufgabe wird für dich
eine anstrengende Prozedur.
»Du hast richtig gehört. Es geht hier alleine um dich! Aber genug jetzt, mein Erscheinen bedarf einer Menge Kraft, die ich aus der Kraft meiner Anhänger ziehe. Ich möchte zum Punkt kommen und dir deine Aufgabe mitteilen.«
»Wer sind deine Anhänger und warum sollte ich für dich eine Aufgabe erfüllen?«
»Meine Anhänger sind alle, die sich für die richtige Seite entschieden haben und der Realität in dieser Menschenwelt entfliehen wollten. Deine Aufgabe teile ich dir gleich mit und es wird für dich …», ihr Lächeln wich einem strengen Blick, »… eine anstrengende Prozedur.«
»Deine Anhänger folgen dir aber oftmals nur deshalb, weil ihnen keine andere Möglichkeit bleibt. Sie wussten nicht, was mit ihnen geschieht, wenn sie in dein merkwürdiges Licht schauen. Ich will keine Anhängerin von dir sein, du hast uns alle aus dem Leben gerissen und machst und krank.« Das Hologramm schwieg. Stefanie beobachtete, dass die leuchtende Frau ihren Mund nicht mehr bewegte und fragte Aysha, was sie ihr gesagt hat. Bevor sie antworten konnte, sprach das Hologramm zu Aysha: »Es mag zwar deinen Beschreibungen entsprechen, aber ich führe nichts Böses im Schilde. Ich versuche euch vom Bösen zu befreien und dazu gehört eine Institution, die seit jeher niemals uneigennützig in der Welt der Menschen tätig war. Der Kirche habt ihr zu verdanken, was ich heute bin. Was ich dir jetzt mitteile, wird für die Menschen mehr als nur hilfreich sein. Ich werde vielen helfen und mich endlich nach einigen Jahrhunderten so entfalten können, wie ich es damals vorhatte. Doch dann kam die dunkle Seite der Welt und hat mich ausgelöscht. Die Kirche.«
»Was sagt sie jetzt wieder?«, fragte Stefanie nach.
Das Hologramm leuchtete hell auf, ein stark gebündelter Lichtstrahl entlud sich impulsartig in Aysha. Mit weit aufgerissenen Augen taumelte sie wie eine Marionette auf der Stelle, dabei schien das Licht aus ihren Augen. Stefanie wollte helfen, doch sie war wehrlos, irritiert, bewegungsunfähig und konnte ihren eigenen Gedanken nicht mehr folgen. Direkt neben ihr geschah etwas Unvorstellbares. Sie wusste weder was es war, noch welche Auswirkung es auf ihre beste Freundin haben würde. Das Gefühl der verzweifelten Angst konnte diesen atemberaubenden Zustand nicht annähernden beschreiben. Stefanie fühlte sich wie ein Entdecker von etwas völlig Unbekanntem. Ihr Verstand würde Zeit benötigen, es kennenzulernen und irgendwann als böse oder gut, konstruktiv oder destruktiv einzuordnen. Je länger sich das Lichtbündel unmittelbar neben ihrer Freundin entlud, umso intensiver spürte Stefanie ihren eigenen Körper, den sie aber nicht bewegen konnte. Sie befand sich nahe genug neben Aysha und spürte einen vergleichsweise nur geringen Anteil der Auswirkungen des Lichts.
Der Kopf wehrte sich gegen eine Situation,
die er nicht einordnen konnte.
Als die Kontrolle ihrer eigenen Gedanken abrupt zurückkehrte, konnte sie ungefähr abschätzen, was mit ihr geschah. Stefanies Geist versuchte die Realität zu reflektieren, doch dieser Versuch schlug fehl. Innerhalb weniger Sekunden taumelte sie im Einklang mit Aysha. Im Gegensatz zu ihrer taumelnden Nachbarin, blieb sie klar im Kopf, doch ihr Verstand wehrte sich weiterhin gegen eine Situation, die er nicht einordnen konnte. Es dauerte eine Weile, bis sie sprach:
»Aysha, kannst du mich hören?«
Sie antwortete nicht. Hin und wieder war es ihr möglich, in ihre Augen zu schauen, doch außer dem Licht, das aus ihr herausstrahlte, wirkte sie innen hohl und leblos. Ihr Gesicht schien entspannt, ihr Mund war leicht geöffnet und ihr Körper hatte, obwohl er wenige Zentimeter über dem Boden schwebte, eine senkrechte Haltung angenommen. Die Szene veränderte sich, als das ausgesandte Licht der leuchtenden Frau schwächer wurde. Ayshas Augen wurden erkennbar, ihre Lider waren geschlossen und die darunter liegenden Augäpfel tanzten hin und her. Sie machte den Eindruck, als würde sie mit geschlossenen Augen übermenschlich schnell lesen. […]
»Marc, das war alles andere als gut.«, rief Stefanie. Die Zimmerdecke begann zu brennen und die Temperatur im Raum stieg rapide an. Wenig später zersetzte sich die Zimmerdecke und der schützende Rauch in der Wohnung zog ab. Der Blick zum dämmernden Himmel war nun ungestört, doch wie bereits auf dem Galgenkopf, erhellte sich der abendliche Himmel über ganz Paris. Selbst die geschlossenen Augenlider durchdrangen die eigenartigen Lichtstrahlen. Die Helligkeit blendete so sehr, dass sich alle die Augen zuhielten. Anders als in Usingen und den anderen Städten, hatte das Licht keine berauschende Wirkung. Niemand der Franzosen verwandelte sich zu einem Geblendeten. Der Schamane tastete sich blind vor lauter Blendung durch die Wohnung und spürte die Tür einer alten Vitrine unter seinen Fingern.
Ein imaginärer Regisseur schien plötzlich von irgendwo Zeichen zu geben, dass die Schauspieler spielen, die neuen Requisiten entblößt werden und die Lichttechnik beginnen sollte. Im Dunkeln tauchte nur schemenhaft wahrnehmbar eine Berglandschaft auf, es war kalt und feucht. Nur wenige Lichtpunkte waren in der Ferne zu sehen, gelegentlich blinzelten Sterne schwach durch eine Wolkendecke. Die Umgebung wurde schärfer, alle Personen, die sich vor wenigen Momenten in der Wohnung des Schamanen befanden, erkannten sich gegenseitig und tasteten orientierungslos nach festen Gegenständen. Niemand hatte eine Idee, was sich gerade ereignete. Niemand wusste, wo er war und zu welchem Zeitpunkt alles geschah. Das Schauspiel setzte sich fort, nur wenige hundert Meter entfernt waren Fackelträger zu erkennen. Ayshas Neugier besiegte ihre Angst und Zweifel, entschlossenen Schrittes näherte sie sich dem Treiben auf dem Berggipfel. Marc und Stefanie folgten ihr nur zögerlich, der Schamane zog nach, die Anderen wollten unbedingt die größere Distanz einhalten. Eine junge Frau lief wehrlos vor zwei Männern her, die sie in regelmäßigen Abständen schubsten und sie mit verächtlichen Worten beleidigten. Sie schien diese Schikane problemlos hinzunehmen, oder zumindest mit Würde und geringstmöglichem Widerstand zu ertragen. Ihre aufgerichtete Körperhaltung demonstrierte Widerstand, sie ließ sich nicht beugen, obwohl die zahlreichen Wunden und Blutergüsse an ihren Armen, Beinen und im Gesicht mehr als genug Gründe dafür hätten sein können.
Stefanie und Marc begriffen, dass sich
in Kürze etwas Grauenhaftes ereignete.
Ein im Dunkeln zunächst nur als großer Haufen eines bestimmten Materials erkennbarer Schatten, zeigte mit Annäherung der Fackelträger sein hässliches Gesicht. Es waren Hölzer in unterschiedlicher Größe, die getrennt nach Größe, von oben nach unten geschichtet aufeinanderlagen. Stefanie und Marc begriffen die Situation und konnten vorhersehen, dass sich in Kürze etwas Grauenhaftes ereignete. Sie wollten eingreifen, um diese Frau zu beschützen, immerhin hatten sie die Gangster in Usingen bereits besiegt und das gab ihnen genug Selbstvertrauen. Die Männer aber drängten sie beiseite als seien sie lästige Fliegen, sie reagierten nicht auf Marcs Pöbeleien und Schreie, Stefanies Schläge landeten keinen Treffer, obwohl sie die Gesichter der Männer gezielt anvisierte. Nach den Fackelträgern folgte ein Geistlicher – es war der Pfarrer, der biblische Phrasen zitierte und sie mitunter mit Gesang schmückte. Das Szenario veränderte sich, im nächsten Moment brannte das Feuer lichterloh, die Frau fing langsam Feuer und konnte eine unmissverständliche Warnung loswerden.
Du Verräter geißelst deine Gemeinde! Das wirst Du büßen, ich komme eines Tages wieder und werde alle Morde rächen. Wartet ab, ihr angeblichen Diener Gottes, es gibt viel mehr, als euer schmaler, weltlicher und verkommender Geist imstande ist zu verstehen.
Gerührt, wütend und sprachlos verfolgten die Vier das Höllenfeuer, Aysha und dem Schamanen kullerten Tränen über die Wangen, Marc konnte nur noch sehr flach atmen. Stefanie realisierte die Gesamtsituation und war dankbar, sie hätte sich das überwältigende Grauen, die Erbarmungslosigkeit der Kirche in ihren schlimmsten Träumen nicht in dieser Stärke ausmalen können. Nun aber wurden ihr schmerzhaft die Augen geöffnet. Nach dem Dunkel der tragischen Nacht, kehrte das blendende Licht zurück.
»Schaut auf keinen Fall ins Licht, schaut auf keinen Fall ins Licht, bitte schaut auf keinen Fall ins Licht.« Stefanie übersetzte die eindringlichen Warnrufe des Schamanen. ■
© Tarik Schwenke „Der Zorn“. Independently published (2022) — Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Tarik Schwenke
Foto: Privat
Lebensdaten
Tarik Schwenke (* 20. Januar 1977 in Köln) studierte im Hauptfach Geographie mit den Nebenfächern Meteorologie und Geologie. Das Studium schloss er als Diplom-Geograf ab. Als Meteorologe war er 13 Jahre lang für die Wettermoderation bei HR, ARD und ZDF tätig. 2010 hatte er ein Schädel-Hirn-Trauma, weshalb er als Epileptiker schwerbehindert ist. Seine schriftstellerischen Fähigkeiten erprobte er über 2,5 Jahre mit einer wöchentlichen Kolumne für eine regionale Zeitung. Schwerpunkte waren Wetter, Klima und Biosphäre. Er verfasste einen teilweise autobiografischen Roman mit Erlebnissen aus seiner Kindheit („Die Blumensiedlung“) sowie ein lyrisch-fiktives Buch in Reimform („Verrücktes aus Auenstadt“).
Mit dem Schreiben möchte ich unterhalten, meine Fantasie ausleben, Leichtigkeit verbreiten. Als Naturwissenschaftler beobachte ich immer sehr kritisch und ziehe meine eigenen Erkenntnisse aus offiziell bekannt gegebenen Quellen sowie aus wissenschaftlichen Thesen. Die häufige Ungleichheit der Darstellungen spornt mich an, die Menschen in meinem Umfeld aufzuklären.
Tarik Schwenke
Das Buch
Tarik Schwenke: Der Zorn. 393 Seiten. Independently published (2022)
»Niemand in der Kleinstadt Usingen im Taunus hätte jemals damit gerechnet, dass dieser Ort Schauplatz eines Rachefeldzuges wird. Bis zum Tag X freuten sich die Einwohner darüber, dass sie vom Großstadtlärm und dem allgemein hektischen Zeitgeistes weitgehend verschont blieben. Dann plötzlich bohrt sich etwas Fremdes in ihre Welt. Aus einer anderen Dimension greift etwas auf die Stadt über, dass die Menschen allmählich in Angst und Schrecken versetzt. Zunächst von der Verlockung eines Lichts angezogen, stellt sich dieses als wahrhaftges Unheil dar. Ein Riss geht durch die Bevölkerung und keiner weiß genau, welche neuen und physikalisch gar unmöglichen Entwicklungen bereits am folgenden Tag hinzukommen oder sich weiter verschärfen.
Stefanie ist eine Zahnärztin mit eigener Zahnarztpraxis, in der ihre beste Freundin Aysha angestellt ist. Zusammen lebt Stefanie mit ihrem Ehemann Marc in einem neuen Haus, sie wollen eine Familie gründen und die Idylle des landschaftlich sehr attraktiven Hochtaunus genießen. Stattdessen geraten sie und Aysha in einen rätselhaften, geheimnisvollen Strudel der Angst und Faszination. Unfassbare Schreie, nicht löschbare Feuer und unsichtbare Menschen sind erst der Anfang von etwas viel Gewaltigerem. Die Polizei ist überfordert und Hauptkommissar Thomas wird zu einem bedeutenden Protagonisten, der sich selbst nicht selten in Frage stellt.
Eine ausführliche und schier unlösbare Detektivarbeit führt Stefanie, Aysha und Marc in verschiedene Städte, dabei treffen sie auf skurrile und sehr interessante Leute, sogar aus einer anderen Zeitepoche - dem Mittelalter. Die wiederholt authentischen Inhalte regen zum Nachdenken an. Könnte es eines Tages tatsächlich so kommen? Ist das Böse nicht vielleicht das Gute?« (Verlagstext)
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Über Tacheles zu Klimafragen ⋙ Link
Über den Roman Der Zorn ⋙ Link