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Torsten Preuß
Der Reporter erzählt seine wahre Geschichte in „Eine Liebe. Zwei Welten.“ und der Filmemacher erzählt in vier Stunden die wahre Geschichte über Deutschlands geteilte Zeiten.
Der Gegenwart. — 14. August 2022 — (Ergänzt mit einer LESEPROBE)
Das Schlimmste an einer Diktatur ist, dass man sie nie mehr los wird. Solange man in ihr lebt, will man sie nicht wahrhaben und danach will man nicht wahrhaben, dass man solange so dumm war, in ihr zu leben. Deshalb entstehen immer wieder neue.
Torsten Preuß
„Eine Liebe. Zwei Welten.“ – Deutschlands Buch über die geteilten Zeiten. Der Journalist Torsten Preuß war zehn Jahre als Korrespondent in Australien und hat am anderen Ende der Welt seinen Blick zurück aufgeschrieben. Nach dem Motto: Liebesgeschichte trifft Weltgeschichte. Alles beginnt 1973 in Dresden. Mit 11 Jahren gibt sich Torsten Preuß das erste Indianerehrenwort seines Lebens: „Noch bevor der Eiserne Vorhang eines Tages fällt, bin ich schon auf allen 5 Kontinenten gewesen.“
Wo es für ihn am schönsten war, will er dann leben. Aber schon mit 15 trifft er die Liebe seines Lebens, mit der er den großen Traum zusammen verwirklichen will: Raus hier! Am besten so weit weg wie möglich. Auch wenn es schwer wird ...
Aus dem „Tal der Ahnungslosen“ einmal um die Welt bis nach Australien ist ein Stück fesselnde Zeitgeschichte, die eine ganze Epoche, ihr plötzliches Ende und die Jahre danach erzählt. Ohne jede Verklärung, aber einer Menge Spaß. Eine Erinnerung für die Ewigkeit.
Textgrundlage: Verlagstext auf Amazon
LESEPROBE
Eine Liebe. Zwei Welten.
oder NEVER GIVE UP!
Dies ist eine wahre Geschichte.
Nie mehr zu ändern.
Nur noch zu erzählen …
Haben Sie schon mal eine Ballkönigin geküsst? Ich meine so richtig, mit Zungenschlag und Augen zu? Ich frage das nur, weil in Hollywood mal ein armer Regisseur, nachdem er reich geworden war, gesagt hat: „Am besten, es fängt mit einem Erdbeben an und steigert sich dann langsam“. Zungenschlag mit einer Ballkönigin kommt einem Erdbeben ziemlich nah. Aber ich glaube, der Mann ist an einem Herzversagen gestorben. Oder war es die Leber? Beides braucht man aber, um eine Liebesgeschichte wie diese zu erzählen. Also werde ich nicht mit einem Erdbeben anfangen, sondern einem Sonnenaufgang. „Always the Sun“ war schon immer eine meiner Lieblingszeilen. Heute hier, in meiner neuen, wie damals dort, in meiner alten Heimat, der Stadt meiner Geburt. Rotgoldwarm steigt sie hinter der Ruine der Dresdner Frauenkirche in einen wolkenlosen Himmel. Ich nehme es als gutes Zeichen. Schönes Wetter hatte ich mir für meine erste große Reise immer gewünscht. Bis dahin bin ich immer nur im Auto meiner Eltern zu meiner Oma gefahren. Ich stritt oder lachte einfach auf dem Rücksitz mit meiner großen Schwester Andrea und drei Stunden später waren wir da. Aber im Sommer des Jahres 1973 nicht. Da soll ich zum ersten Mal alleine fahren. Ich meine, ganz alleine. Obwohl ich noch keine zehn Jahre alt bin, aber meine Mutter sagte schon immer gern: „Reisen bildet. Und je eher man damit anfängt, umso besser.“ Außerdem geht es ja erst mal nur zu meiner Oma. Die wohnt nicht auf einem anderen Kontinent, nicht mal in einem anderen Land. Sie wohnt in Deutschland, so wie ich damals. Nur etwas mehr in der Mitte, mitten im Grünen.
*
In Gummistiefeln über die Weide laufen und die Kühe zusammentreiben, frischgelegte Eier aus dem Hühnerstall holen, Pferde striegeln oder federleichte Küken in der Hand halten, Ferien bei Oma ist das Beste, was mir als Kind passieren kann. Also habe ich einfach gute Laune, als der Zug den Hauptbahnhof von Dresden langsam verlässt. Meine Stimmung steigert sich noch, als ich im Zug sogar einen Platz finde, in einem Abteil, in dem ein Mann Mitte 40 sitzt und eine Frau um die 35. Beide sehen ganz sympathisch aus. Obwohl? Als der Mann anfängt zu sprechen, kann ich an einer Hand seine Zähne zählen:
„Der Zug rast ja heute wieder in einem Tempo, als würden sie vor ihm noch die Gleise verlegen.“
Die Frau lacht nicht. Ich grinse vorsichtshalber. Er grinst mit. Dann fixiert er mich eine Weile mit seinen Augen:
„Wo willst du denn hin?“
„Zu meiner Oma.“
„Ferien?“
„Ja.“
„Ferien waren immer das Beste an der Schule.“
„Hat sich nicht geändert.“
„Schön zu hören.“
Er zwinkert mich dabei an wie einen alten Kumpel:
„Wo musst du denn raus?“
„Plauen.“
„Plauen? Kenne ich. War früher mal `ne schöne Stadt.“
Er holt aus einem blumenbedruckten Stoffbeutel eine Flasche Bier:
„Prost.“
Kurz darauf kommt der Schaffner und will meine Fahrkarte sehen. Ich zeige sie ihm und er locht sie ab. Als die schwere Lokomotive ein paar langsame Stunden später im Hauptbahnhof von Plauen beim Abbremsen so schrill quietscht, dass mein Rücken kurz erkaltet, weiß ich, dass ich endlich da bin. Ich halte mir die Ohren noch so lang zu, bis sie endgültig steht, dann steige ich aus.
Mit mir verlassen vielleicht noch fünf Leute den Zug. Ich frage den Mann, der den Bahnsteig kehrt, nach dem Weg zum Busbahnhof. Er murmelt mich an:
„Um die Ecke.“
„Danke.“
Ich laufe in die Richtung, in die er genickt hat, bis zu einem kleinen Haus, das zwischen den Bussen steht, und trete an das runde Fenster. Vor meinen Augen fängt ein Lippenstift an zu sprechen:
„Wo willst du denn hin, mein Kleiner?“
Mir gefällt zwar das Wort „Kleiner“ nicht, trotzdem antworte ich freundlich:
„Nach Hirschberg.“
„Hirschberg?“
Sie sieht mich an, als hätte sie „Hamburg“ verstanden. Ich nicke so lange, bis sie eine Spur zu freundlich fragt:
„Was willst du denn in Hirschberg?“
„In der Nähe wohnt meine Oma.“
„Dort wohnt noch jemand?“
Sie gibt mir zweifelnd eine Fahrkarte aus Pappe. Ich stecke sie in meine Tasche und gehe zurück zur Bahnhofshalle. Von Weitem sehe ich noch, wie der Lippenstift in ein Telefon spricht, dann setze ich mich auf eine Bank und überlege eine Weile, was ich tun kann. Ich habe noch eine Stunde Zeit. Warum nicht einfach Plauen anschauen? Muss ja niemanden mehr fragen. Ist ja keiner mehr da. Obwohl? Plötzlich wird es vor meinen Augen schwarz. Vier schwere Lederstiefel stehen vor mir auf dem Boden. Ich sehe langsam nach oben. Die zwei Männer, die darin wippen, tragen dunkelblaue Uniformen. Ich weiß sofort: Transportpolizei. Wir nennen sie immer „Trapos“. Sie laufen auf allen größeren Bahnhöfen Streife. Getan haben sie mir noch nie etwas, also bin ich einfach freundlich:
„Guten Tag.“
„Mitkommen.“
„Mitkommen?“
„Mitkommen. Und vergesse deinen Beutel nicht.“
„Ich wollte mir doch gerade Plauen anschauen gehen.“
„Plauen? Wolltest du nicht nach Hirschberg?“
„Woher ...“
Mir fällt der Lippenstift am Telefonhörer ein. Ich sage zu dem Älteren:
„Mein Bus fährt aber bald.“
„Das werden wir noch sehen.“
Wir laufen Richtung Bahnhofshalle, ich in der Mitte. Die Menschen, die uns entgegenkommen, blicken alle von uns weg. Ungestört kommen wir zu einer Tür auf der „Betreten verboten“ steht. Der Raum dahinter hat nur ein Fenster. Von außen ist es vergittert, innen fehlt der Griff. In der Mitte steht ein billiger Büroschreibtisch aus falschem Holz. Die Tür fällt zu, wir sind nur noch zu dritt. Zwei Menschen in Uniform, die ich vorher noch nie gesehen habe und danach auch nie wiedersehen werde, und ich, ein Junge, der zu seiner Oma will.
„Setzen.“
Der ältere der beiden Polizisten drückt mich auf den Stuhl und blickt mir von der Seite ins Gesicht:
„Wo sollte es noch einmal hingehen?“
Ich zeige ihm meine Fahrkarte wie ein Beweisstück:
„Hier. Bitteschön. Nach Hirschberg.“
„Was willst du denn in Hirschberg?“
„In der Nähe wohnt meine Oma.“
„Die Oma.“
„Ja. Und der Opa.“
Seine Stimme wird etwas freundlicher:
„Willst wohl Ferien machen, so richtig auf dem Land, hm?“
Ich könnte ihm jetzt viel erzählen. Von Emil zum Beispiel. Der hatte schon zwölf Weihnachten überlebt und gehört längst zur Familie. Manchmal läuft er Oma die steile Dorfstraße hoch entgegen, um sie abzuholen. Ich frage mich dann immer, woher der Gänserich bloß weiß, wann der Bus kommt. Aber der Mann vor mir ist ein schlechter Schauspieler. Seine Freundlichkeit stinkt zum Himmel. Ich erzähle ihm also lieber:
„Ja.“
Erst wartet er, ob ich vielleicht doch noch … dann wird er etwas lauter:
„Und wo ist dann dein Passierschein? Hast du schon mal davon gehört, dass Besuche in diesem Gebiet nur mit einem Passierschein gestattet sind?“
Obwohl er jetzt wirklich nicht mehr nett klingt, bin ich richtig erleichtert:
„Na klar, weiß ich das. Ich fahre doch schon lange in die Ferien zu meiner Oma. Sie hat mir einen Brief geschrieben, dass ich mir diesmal meinen Passierschein in Hirschberg selbst abholen soll. Die Zeit war zu knapp, um ihn mir nach Hause zu schicken.“
Sie schauen sich beide an, als hätten sie sich gerade zum ersten Mal gesehen.
„Abholen?“
„In Hirschberg?“
„Wo gibt es denn so etwas?“
Ihre Augen werden immer schmaler. Dann fragen sie fast gleichzeitig:
„Wo wohnt denn deine Oma überhaupt?“
„In Venzka. Der Ort heißt Venzka.“
„Venzka?“
„Venzka? Noch nie gehört.“
Sie tuscheln sich etwas zu. Der Ältere schaut zu mir herunter:
„Mann Kleiner, ich hoffe, du hast recht.“
Diesmal ist mir das Wort „Kleiner“ egal. Ich sehe nur, wie sie den Raum verlassen. Und dass die Tür, die hinter ihnen zufällt, auch keinen Griff auf meiner Seite hat. Erst mal durchatmen und warten, wie es weitergehen wird. Es dauert nicht lange, da geht die Tür plötzlich auf, wir sind wieder zu dritt. Ich rühre mich nicht. Der Ältere greift meinen Arm und zieht mich nach oben:
„Schöne Ferien.“
Er blickt auf seine Uhr:
„Dein Bus fährt in zehn Minuten.“
Ich atme einmal kurz aus, dann renne ich los, quer über den Bahnhofsplatz bis zur Abfahrtsstelle.
*
Der Bus nach Hirschberg steht schon bereit. Ich zeige dem Fahrer meine Fahrkarte und setze mich ganz nach hinten, in die letzte Reihe, auf einen Platz am Fenster. Unterwegs wechseln sich Hügel, auf denen Tannen bis zum Himmel wachsen, mit Feldern ab, auf denen Mähdrescher Getreide fressen. Thüringen heißt die Gegend und ist wirklich schön. Nach einer halben Stunde hält der Bus an, obwohl ringsherum nur Wald ist. Zwei Soldaten springen aus dem Busch und steigen ein. Sie tragen Stahlhelme und Uniformen in Tarnfarben. Der Bus fährt wieder an und rollt weiter. Sie beginnen die Papiere der wenigen Fahrgäste zu kontrollieren. Ich komme als Letzter dran. Ohne zu fragen, wissen sie meinen Namen. Ich wundere mich gar nicht erst. Ich sehe nur die Funkgeräte an ihren Gürteln und nicke mit dem Kopf. Sie setzen sich in die Reihe vor mir. Vielleicht sind sie gerade 19 oder 20, älter nicht. Einer hat sogar ein niedliches Milchgesicht. Er stellt seine Maschinenpistole zwischen seinen Beinen ab und dreht sich zu mir:
„Wie kommst du denn auf die lustige Idee, ohne Passierschein hierherzufahren?“
„Ich habe ja einen. Die Zeit war nur zu knapp ihn per Post nach Hause zu schicken. Deshalb hat meine Oma ihn in Hirschberg abgelegt.“
„Wo wohnt denn deine Oma?“
„Noch hinter Hirschberg, in Venzka.“
„Venzka? Das kenne ich doch. Ein kleines Dorf, kurz vor dem Aussterben.“
„Darf ja keiner mehr hinziehen.“
„Stimmt.“
Es dauert eine Weile, bis der Bus wieder langsamer wird:
„Hirschberg, wir sind da.“
Der Fahrer öffnet die Tür automatisch, die beiden Soldaten stehen auf:
„Du musst erst mal mitkommen.“
„Wohin?“
„Wir sollen dich abgeben, am Kontrollpunkt.“
Sie bringen mich zu einem flachen Haus aus grün angestrichenen Betonplatten. Ein hagerer junger Mann, Anfang 30, in einer Uniform, sitzt hinter einem Holztisch, auf dem rechts von ihm ein Feldtelefon steht. Links von ihm steht ein kleiner Kasten. Während er darin blättert, fragt er:
„Name?“
„Preuß.“
„Vorname?“
„Torsten.“
„Geboren?“
„08.08.1963.“
„Wohnhaft?“
„8036 Dresden, Zschachwitzer Straße 24.“
„Wohin?“
„Venzka.“
„Verwandte welchen Grades?“
„Oma und Opa.“
Er nickt und zieht einen Zettel aus dem Kasten. Ich erkenne ihn sofort. Er reicht ihn mir über den Tisch:
„Das ist eine Ausnahme.“
„Ja.“
„Sag das deiner Oma.“
„Ja.“
„Das nächste Mal gibt es das nicht mehr.“
„Nein.“
„Aber nicht verlieren.“
„Nein.“
Draußen wird es jetzt schon langsam dunkel, ich kann die ersten Lichter in den Häusern Hirschbergs sehen. Noch ist der Schlagbaum aber vor mir zu. Es dauert eine Weile, dann kommt ein Soldat und öffnet ihn für mich. Obwohl ich sie nicht höre, spüre ich, wie sich die rot weiß gestrichene Eisenstange hinter meinem Rücken wieder senkt. Damit befinde ich mich jetzt in verbotenem Territorium. Niemand, kein Mensch der Welt, darf hinter diesen Schlagbaum. Nicht ohne Passierschein.
*
Ich laufe die leere Straße entlang, bis in die Mitte des Ortes und biege in eine schmale Seitengasse aus Kopfsteinpflaster, die steil zwischen zwei alten Häuserblöcken nach oben führt, auf einen freien Platz, auf dem eine 100 Jahre alte Kastanie steht. Wie immer grüße ich sie mit einem Augenzwinkern und gehe weiter zum Anfang einer schmalen Straße, die rechts von dem Platz weg in den Wald nach Venzka führt. An ihrem Anfang flackert der Schein einer Petroleumlampe durch die Schlitze eines Wachhauses. Als ich in seine Nähe komme, fängt der Betonklotz an zu sprechen:
„Halt! Stehen bleiben.“
Ich gehorche und warte, bis die schwere Tür aufgeht.
„Wo willst du denn hin?“
„Nach Venzka.“
„Passierschein.“
Ich ziehe ihn aus meiner Tasche. Der Soldat schwingt seine Maschinenpistole auf den Rücken und richtet den Strahl seiner rechteckigen Taschenlampe auf die Buchstaben in Schreibmaschinenschrift. Unter „gültig für“ steht: „Hirschberg/ Venzka“.
„In Venzka gibt es doch nicht mal mehr eine Kneipe.“
„Aber meine Oma. Und meinen Opa.“
Er öffnet den Schlagbaum:
„Na dann, viel Spaß.“
Ich bin fast da. Nur noch etwas mehr als einen Kilometer zu Fuß. Die Bäume stehen wie eine schwarze Wand neben mir. Beleuchtung gibt es keine mehr. Nur ein paar Sterne. Wie immer suche ich zuerst nach dem Großen Wagen, finde ihn aber nicht. An einer Gabelung nehme ich die Straße, die nach rechts führt, zwischen Weiden und Bäumen bis ins Dorf zum Haus meiner Oma. Als ich endlich in die große Küche trete, will sie natürlich wissen, wie es war:
„Is mal alles jut jegangen, mein Kleiner?“
Diesmal gefällt mir das Wort „Kleiner“ sogar. Ich nicke mit dem Kopf, aber bevor ich etwas sagen kann, drückt mich mein Opa wie jedes Mal an seine Brust, als sollte ich für den Weltrekord im Luftanhalten üben.
Schlafen will ich in der Nacht nach meiner ersten großen Reise allein noch nicht. Stattdessen warte ich bis die anderen schlafen. Dann schleiche ich mich zurück in die Küche und nehme mir den großen alten Topf aus blauer Emaille vom Herd.
Ich setze mich im Dunkeln ans Fenster, auf den Rand des alten weichen Sofas und beginne mit einer silbernen Kelle den kalten Kakao hinunter zu schlürfen. Dabei denke ich an die Bilder des Tages: Ein rasend langsamer Zug, ein am Ende leicht betrunkener Mann, ein von Anfang an neugieriger Mund mit zu viel Lippenstift, ein die ganze Zeit vergitterter Raum mit einer Tür ohne Griff, eine Menge Uniformen und Maschinenpistolen zwischen Beinen von Milchgesichtern. Alles war gut gelaufen, nicht mal langweilig, manchmal sogar spannend, kein schlechter Tag, kein schlechtes Ende für meine erste große Reise. Ich bin, wo ich hinwollte, ans Küchenfenster meiner Oma. Das Haus steht etwas höher als die anderen, so kann ich ihn sogar von oben sehen. Wie immer sieht es nachts am gespenstischsten aus.
*
Bis zum schwarzen Horizont fällt gleitendes Flutlicht auf den Eisernen Vorhang, der Deutschland, Europa, die ganze Welt, vor meinen Augen teilt. Das legendäre Bauwerk besteht aus zwei Stahlgitterzäunen, die ungefähr dreimal so hoch sind wie ich. Dazwischen stehen in regelmäßigen Abständen Wachtürme. Sie werfen im Rhythmus der suchenden Scheinwerfer lange Schatten auf eine provisorische Straße aus hingelegten Betonplatten, die alle Wachtürme miteinander verbindet. Zum Schichtwechsel kann ich die Soldaten immer sehen, wie sie die Türme besteigen. Die Maschinenpistolen auf dem Rücken, die Feldstecher um den Hals. Wir nennen die Jungs immer nur Grenzer. Wenn ich am frühen Morgen die frische Milch in silbernen Kübeln aus dem Stall von Oma die steile Dorfstraße hoch schleppe, legen sie manchmal die Maschinenpistolen bei Seite und packen mit an. Meistens setzen wir uns danach noch auf den Rand der Rampe und warten bis der kleine Lebensmittelladen, den alle nur Konsum nennen, um acht Uhr morgens öffnet. Ich glaube, einer von ihnen hat mir dabei sogar meine erste Zigarette gegeben. Ich will sagen, sie sind immer nett, nette Jungs, die mich erschießen würden. Einfach so. Obwohl? Einfach so nicht. Vorm Erschießen haben sie sogar den gleichen Schiss wie ich. Wie gesagt, sie sind Jungs im schönsten Alter, die alle nur einen Wunsch haben: „Hoffentlich nicht ausgerechnet bei mir! Hoffentlich rennt nicht ausgerechnet mir jemand in meiner Dienstzeit durchs Bild, hoffentlich muss nicht ausgerechnet ich jemanden erschießen. Einen Jungen, ein Mädchen, eine Frau oder einen Mann, jemanden, den ich nicht mal kenne, den ich noch nie gesehen oder von dem ich noch nie gehört habe.“ Das wollen sie alle nicht, die Milchgesichter in Uniformen, die wir, ihre potenziellen Opfer, freundlich Grenzer nennen. Wenn ich mit den wenigen Jungs, die in Venzka noch wohnen, am Rande des Dorfes Fußball spiele, müssen wir immer aufpassen, dass der Ball nicht zu weit wegfliegt. Weil mitten durch Deutschland auch noch Minen im Gras liegen. Manchmal wecken sie mich nachts auf. Zum Glück musste ich aber noch nie wirklich erleben, dass eine einen Menschen zerfetzte. Meistens ist es nur eine Fehlzündung oder eine „dumme Kuh“. Mehr dürfen die Grenzer ja am nächsten Tag nicht sagen. Und ich? Will es gar nicht wissen. Muh? Warum nicht? Als Kind bleibt das Licht lieber an, der Keller lieber zu, das Leben lieber ewig am Fenster über Deutschland. Dort reicht mir schon das, was ich gerade wieder vor mir sehe. Und höre: das Bellen der Schäferhunde:
„Wau, Wau, Wau, Wau, Wauu…“
Irgendjemand aus dem Dorf hat mal erzählt, sie bekommen nur alle drei Tage etwas zu fressen. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber sie hören sich immer so an wie hungrig genug gehalten, um jederzeit – in der Grenzer-Sprache gesagt – einen Menschen zu stellen. Mit einem Biss ins Bein oder einem Sprung ins Genick des Jungen, des Mädchens, der Frau, des Mannes, der es mit oder sogar ohne Passierschein bis hinter den ersten Zaun geschafft hat. Danach beginnt der Todesstreifen. Ab da hilft nur noch rennen … Hunde im Genick? Eine Kugel in den Rücken? In den Bauch? Mitten ins Herz? Oder doch daneben? Weil ein Milchgesicht in diesem Augenblick vielleicht zum Mann geworden ist? Das alles und noch viel mehr, weiß man erst, wenn man hinter dem zweiten dreimal so hohen Zaun, im Westen Deutschlands, Europas, der Welt oder, einfacher gesagt, frei ist. Und das ist das Geniale an einer Oma im Grenzgebiet. Ich kann auch ohne gleich erschossen oder erbissen zu werden, hinter den Eisernen Vorhang schauen. Viel sehe ich nicht, aber das wichtigste schon: Auf meiner Seite stehen Wachtürme, leuchten mir Scheinwerfer entgegen, explodieren „dumme Kühe“, bellen die Schäferhunde nachts nach Futter. Und auf der anderen Seite? Dort, wo die bösen „Kapitalisten! Imperialisten!! Faschisten!!! Und Kriegstreiber!!!!“ Regie führen? Dort steht an einer fernen Landstraße nur eine einsame Straßenlaterne. Und wenn ich die Jungs ab und zu frage, ob sie wenigstens von ihren Wachtürmen aus schon mal jemand gesehen haben, von denen, die angeblich Gewehr bei Fuß stehen, um uns zu überfallen, feixen die meisten nur stumm vor sich hin. Der Unterschied zwischen „beschützen“ und „bewachen“ wurde mir so schon ziemlich zeitig klar. Aber noch nie so klar, wie an diesem Abend, am Küchenfenster meiner Oma, beim Blick auf das Ende meiner Welt: Bis hierher und nicht weiter! Sonst wirst du gestellt, erbellt, erbissen oder erschossen. Warum? Wieso?? Weshalb??? Weswegen???? Ich bin gerade zehn, ich weiß nur: So ist es eben, geboren hinter dem Eisernen Vorhang, im „kommunistischen Lager“, dem größten lebenden Gefängnis, das Menschen jemals errichtet haben. Es erstreckt sich über vier Kontinente und zwölf Zeitzonen und mitten durch Europa, mitten durch Deutschland, treffen der „Osten“ und der „Westen“ der Welt im Kalten Krieg aufeinander. Sogar für immer und ewig, wie es scheint. Dass der Eiserne Vorhang jemals wieder fallen würde, glaubt 1973 jedenfalls schon lange niemand mehr.
Ich auch nicht, an diesem Abend, als ich mich zum ersten Mal allein unterwegs, mit mir und meinem Leben, frage, was ich deshalb wohl alles verpassen werde, in der Zeit, in der ich einmal existiere. Die Liste erscheint mir sofort endlos, aber wie immer ist das erste Bild dazu ein Strand mit Palmen. Palmen stehen für mich für alles, was ich im Kommunismus vermisse. Und das ist nicht wenig. Manchmal schaffen es die Kommunisten nicht einmal, uns ausreichend mit Klopapier zu versorgen. So gibt es vieles nur wenig, nur ab und zu oder noch seltener, aber das wichtigste gibt es eben nie: Freiheit. Von der kann man nur träumen, geboren hinter dem Eisernen Vorhang: Bis hierher und nicht weiter! Sonst wirst du gestellt, erbellt, erbissen oder erschossen auf dem Weg in die weite Welt, die mir an diesem Abend noch weiter weg vorkommt als sonst. Dass ich in einem großen Gefängnis geboren bin, weiß ich zwar schon seit dem ersten Blick aus dem Küchenfenster meiner Oma, aber noch nie war mir das so bewusst wie nach meiner ersten Reise allein darin. Ohne Passierschein wäre schon in Plauen Endstation gewesen. So ist es Venzka. Weiter westlicher geht es nicht. Und trotzdem verspreche ich mir an diesem Abend im Sommer 1973 das genaue Gegenteil. Schließlich hat mir meine erste Reise allein auch Spaß gemacht und gelernt habe ich dabei vor allem eins: Dass ich mich auch alleine durchschlagen kann. Also schlürfe ich den letzten Kakao herunter, dann hebe ich die silberne Kelle wie ein Kreuz in die Luft und gebe mir in einem Anfall aus Trotz, Ohnmacht, Wut und Mut das erste Indianerehrenwort meines Lebens:
Bevor der Eiserne Vorhang irgendwann fällt, bin ich schon auf allen fünf Kontinenten gewesen!
Ich muss nicht mal lachen dabei. Obwohl es sogar zum Totlachen ist. Ein Blick aus dem Fenster genügt: Wer kommt hier schon lebend raus? Die Schäferhunde scheinen der gleichen Meinung. Hungrig freuen sie sich schon auf mich:
„Wau!!! Wau!!! Wau!!! Wau!!! Wauuu!!!“
Ich habe sie noch in den Ohren, als ich dann doch noch schlafen gehe. Eine Mine explodiert in dieser Nacht nicht. Die haben die Grenzer gerade ausgewechselt, gegen „Selbstschussanlagen“. Der Mensch löst seinen eigenen Tod aus. Selbst schuld sozusagen. Was rennt er auch durch dieses schöne Land. Auch noch in die falsche Richtung. In die andere ist es nämlich völlig ungefährlich. Zumindest an dem Tag, an dem ich zwei Wochen später wieder zurück nach Dresden fahre. Da interessiert sich niemand mehr für mich. Allein gelassen mit mir und meinem Indianerehrenwort komme ich dort an, von wo ich ab jetzt nur noch wegwill, auf den Trip meines Lebens: Einmal um die Welt. Noch bevor der Eiserne Vorhang fällt. Das ist der Traum. Nicht mein Einziger, aber ab jetzt mein Größter………
Der Gegenwart dankt herzlich dem Autor für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung der Leseprobe auf dieser Webseite und weist darauf hin, dass das ganze Buch ein ganz tolles Stück Literatur und Geschichte ist und nach dem Kauf vollständig gelesen zu werden verdient. Das Buch gibt's zum Wende-Preis von 19,89 + Versand = 22,00 Euro. Bezug über http://www.1liebe2welten.de/
Lebensdaten
Torsten Preuß: Eine Liebe. Zwei Welten. 596 Seiten. TOPonlineverlag 2019
Das Buch – Trailer
Das Ministerium für Erinnerung empfiehlt: 1Liebe – 2Welten. Deutschlands Buch über die geteilten Zeiten, geschrieben und vorgestellt von Torsten Preuß.
Das Buch – Hörprobe
Das Ministerium für Erinnerung empfiehlt: Die Musterung – gelesen von Torsten Preuß.
Der Film – Trailer
Hier ist der Film über diese Zeiten. Moskau, Kreml, Kalter Krieg, Entspannung – das fing ja schon viel früher an.
Deutschland geteilt – die wahre Geschichte – der Trailer. Keine zwei Minuten, um auf über 4 Stunden deutscher Geschichte Appetit zu machen. Von Torsten Preuß – Journalist und Filmemacher.
Der Film: Deutschland geteilt – die wahre Geschichte
Der Vier-Stunden-Film Deutschland geteilt – die wahre Geschichte. Moskau, Kreml, Kalter Krieg, Entspannung – das fing schon viel früher an. Mit Teil 1. Den gibt es hier zu sehen. Nach dem Motto: Denke ich an Deutschland in der Nacht – diesmal über unsere jüngste deutsche Vergangenheit. Nie wurde so viel gelogen wie über diese Zeit. Wie kam es 1945 zur Teilung Deutschlands, Europas, der ganzen Welt? Und wie konnte sie solange bestehen? Hier ist die Antwort, in einer langen Nacht wie im Kino. Mit allen Stars und Sternchen von damals bis heute. Eine Erinnerung für die Ewigkeit. Von Torsten Preuß, Journalist und Autor.