Hinweise auf Menschen
Uwe Tellkamp
Sebastian Hennig würdigt den Roman Der Schlaf in den Uhren als dichterische Volksbefreiung von der Suggestion der Propaganda.
Der Gegenwart. — 30. August 2022
Niemals aufgeben. Das ist es. Aufgeben gibt's nicht.
Uwe Tellkamp im Dokumentarfilm „Der Fall Tellkamp – Streit um die Meinungsfreiheit“ (2022)
Anlässlich einer Preisverleihung im Juni 2017 stellte Uwe Tellkamp in einer Rede dar, was ihn zum Schreiben motiviere: „Mich interessieren Geschichten, sprich Handlungsverläufe, Seinszusammenhänge, beispielsweise die Geschichte eines Menschen, der sich vor ca. 25 Jahren engagiert hat in der Bürgerbewegung der DDR und der meinte, jetzt breche er zu neuen Ufern auf, jetzt dämmere die Sonne einer Freiheit im Kopf. Mit diesem Glauben und mit diesem Idealismus […] hat dieser Mann sein Bestes gegeben und dafür gesorgt, dass ein unfassbar überwältigendes System scheinbar zusammengebrochen ist. Die Arbeit, der Mut, die es braucht, sich als Einzelner, als Familienvater gegen diese Staatsmacht zu stellen, kann man nicht hoch genug einschätzen. Nun sehe ich diese Geschichte jedoch im Zusammenhang: Ich sehe sie bis heute, ich sehe denselben Mann, dieselbe Frau mit ihrem Engagement irgendwo in der zweiten Reihe, in der Politik versandet, die Ideale gebrochen, das Programm heißt Desillusionierung, und die Freiheit ist nicht die, von der man träumte, sondern man erwachte in Nordrhein-Westfalen, um ein vielzitiertes Wort zu wiederholen. [2017] werden Helligkeits- und Dunkelheitskategorien vergeben. Wobei die Dunkelheit interessanterweise im Osten verortet wird. Und es werden Verbiegungen, Mechanismen, Talkshows mit Ein- und Ausladungspolitiken betrieben, die mich erschüttern und die diese Figur erschüttern, über die ich schreibe, weil sie sie an die Zeit vor 30 Jahren erinnern. Und diese Figur fragt sich, ob man mittlerweile in einer DDR 2.0 lebt – und wenn ja, warum.“
Uwe Tellkamp selbst beschreibt in der Zeitschrift Bella triste sein literarisches Schaffen mit den Worten: „Der moderne Dichter, wie ich ihn verstehe, ist wie der Dom-Baumeister; er ist damit, wie diejenigen, die sich aufmachten, Kap Hoorn zu umsegeln oder einen Seeweg nach Indien zu finden, zwangsläufig pathetisch – was er in Kauf nehmen kann, wenn es ihm gelingt, die grundlegenden menschlichen Empfindungen wieder zu gestalten.“ In einem Interview mit dem Oberpfalznetz charakterisiert Tellkamp sein Schreiben als einen „Versuch, Heimat wiederzugewinnen“, die durch den Ablauf der Zeit verloren gegangen sei. Damit stellt er sich in die Tradition von Marcel Proust (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). (nach Wikipedia)
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Das Volk, der Dichter
und der Schlaf
Bisher galt Der Turm als Durchbruch von Uwe Tellkamp. Nun hat sich erwiesen: Das war nur die Bodenplatte, auf der er sein eigentliches Werk errichtet hat.
Von Sebastian Hennig
Als Uwe Tellkamp in der Diskussion mit Durs Grünbein 2018 in Dresden ohne jede Rückversicherung, außer der seines Roman-Ruhmes von „Der Turm“ (2008), seinem Verdruss über die leichtfertige Preisgabe seines Landes Luft machte, gab er damit den Startschuss für einen Reigen von Propheten, die seither über die anhaltende Verzögerung des Erscheinens der Fortsetzung seines Erfolgsbuches unausgesetzt bösartig in der Öffentlichkeit räsonieren. In der jüngsten Fernsehdokumentation zu Uwe Tellkamp ergeht sich Ingo Schulze vor laufender Kamera darüber, dass Tellkamp in seiner hemmungslosen Wut gewiss die künstlerische Gestaltungskraft abhandengekommen sei. Der Mitbewerber in erzählender Prosa gab sich damit, wie man nun nach dem Erscheinen von „Der Schlaf in den Uhren“ weiß, eine viel größere Blöße als sie Tellkamp in jener Diskussion mit der Angabe von 95% von Asyl-Forderern unterlief, die nichts anderes wollen, als in den bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat einwandern. Aber so wie die Zahl als Metapher für eine wahre Empfindung ihre Berechtigung behält, so konnte auch Schulze aufgrund einiger von Tellkamp gegebener Proben nicht darauf schließen, was mit dem neuen Roman, den man getrost Uwe Tellkamps Debütroman nennen kann, auf den Leser zurollt.
Die Träume der Feuilletonisten
Wer „Der Schlaf in den Uhren“ gelesen hat, der im Untertitel herausfordernd als erster Teil eines Zyklus mit „Archipelagus I“ bezeichnet wird, der erkennt recht bald, dass „Der Turm“ eben nicht der erste Teil dieses Buches war, sondern nur ein Entgegenkommen für die Konventionen, Vorurteile und Träume der Feuilletonisten, die auf den endgültigen DDR- und Wenderoman bald zwanzig Jahre gelauert haben. Der Erfolgsroman fungiert als Bodenplatte, die der Autor gegossen hat, um ohne weitere Rücksichten darauf das Werk errichten zu können, das er von Anfang an im Sinne trug. Material mit dem Titel „Der Schlaf in den Uhren“ datiert lange vor dem Erscheinen des Turmromans. Und man ist geneigt sich vorzustellen, wie Verleger und Lektoren angesichts des Exposés gemeint haben: Erst einmal konstruierst Du uns jenen Sehnsuchts-Roman über die geheime DDR, auf den alle warten, nicht zuletzt wir geschäftstüchtigen Verleger. Damit schaffst Du Dir zugleich ein jahrelanges Stipendium, das Dich instand setzt, an einem Werk zu arbeiten, das diesen Namen verdient und uns gestattet dessen Vollendung in aller Ruhe abzuwarten. Damit hätte Uwe Tellkamp für Suhrkamp in einer Person das bewirkt, wofür beim Hanser-Verlag Pascal Mercier und Reinhard Jirgl gemeinsam zuständig sind: Eine literarische Quantität erzeugen, die literarische Qualität ermöglicht.
In der bereits erwähnten Filmdokumentation berichtet der Autor, wie sich der Roman von ihm abgelöst hat und in sein eigenes notwendiges Leben eingetreten ist. Nur aus der Gewissheit darüber, was er geschaffen hat, erklärt sich die unverstellte Radikalität, mit der Uwe Tellkamp sich dann zu Zeitfragen in der Öffentlichkeit äußerte und, was heute fast noch wichtiger genommen wird, wo und mit wem er sie äußerte. Es ist das Merkmal einer Art Nestschutz, die der Hervorbringer seinem Werk verdankt, eine innere Sicherheit, die sich aus dem Gefühl ergibt, etwas Notwendiges und Haltbares geschaffen zu haben. Wenn Tellkamp an Thomas Manns Zauberberg die „werthaltige, beruhigende Ziegeldicke des Materials“ herausstreicht, dann gilt das auch für sein eigenes Buch, vor allem in substanzieller Hinsicht. Wobei die Substanz von der Breite des Materials nicht zu trennen ist.
Im Gespinst der Assoziationen
„Der Schlaf in den Uhren“ ist ein geheimnisvolles und suggestives Buch, das sich auf dünnem Eis in die Freiheit zurücktastet. Feinsinnig und locker werden Atmosphären und Figuren assoziiert. Bei aller Zerbrechlichkeit dieser Poetik des anspielungsreichen Gespinstes ist der Roman doch ungeheuer belastbar und hält sich souverän neben den großen Geheimnisträgern des Erzählens wie Doderer, Jünger und Johnson. Wenn er stellenweise eklektizistisch wirkt, so werden die entstehenden Fugen überspielt von einer fruchtbaren Liebe für die Welten dieser Vorgänger. Denn Kunst entsteht nicht nur aus Erlebnis und Naturbeobachtung. Sie besteht auch aus Kunst, die wie alles Wirken der Menschen auch Teil der Natur und der Erfahrung ist.
Was im Turm zuweilen noch etwas Popanzhaftes hat, rundet sich hier mit überlegener Gestaltungskraft. Das sich das nicht so einfach in einen ZDF-Zweiteiler überführen lässt, gehört mit zum Besten, was sich über diesen Roman sagen lässt. Denn seine Schilderungen illustrieren nicht etwas Gewesenes für die staunende Nachwelt. Mit Tatort-Niveau wäre diesem Roman nicht beizukommen. Es müsste schon ein John Cleese oder Wes Anderson dieses schillernde Kaleidoskop jüngerer Geschichte, der alle Scheidewände herausgebrochen sind, zwischen Ost und West, früher und heute, Demokratie und Diktatur, Schuld und Sühne, mit eigenständiger Formkraft in fantastische Filmkunst überführen. Denn hier liegt Autorschaft im eigentlichen Sinne vor.
Der Roman ist das Gegenteil der
journalistischen Ammenmärchen.
Eine vorangestellte Notiz stellt klar: „Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Die Personen, wie sie geschildert werden, leben in der Vorstellung und haben mit tatsächlich existierenden Menschen soviel gemein, wie eine Skulptur mit dem Bildhauerton.“ Es bringt keinen Mehrwert, Züge der Figuren des Romans Persönlichkeiten der Zeitgeschichte zuzuordnen, wie Hans Modrow, Ronald Schernikau, Werner Tübke, Angela Merkel, Bärbel Bohley, Gregor Gysi, den Vettern Lothar und Thomas de Maiziere, Wolfgang Schnur, Marcel Reich-Ranicki, Horst Janssen, Joachim Kaiser und vielen anderen, deren Habitus der Kenntnisreiche in vielfach verflochtener Gestalt wieder erkennen kann. Einige von ihnen sind heute schon so gut wie vergessen. Ihre Existenz und ihre Motive bedürfen bereits der Erklärung. So sind diese wirklichen Personen nichts als Schatten im Verhältnis zur musikalischen Selbstverständlichkeit mit der Doktor Rensenbrink, Volker Delanotte, Anne, Judith Schevola, die Bramsincks und Max Barsano sich uns einprägen. Dabei gibt es keine Verworfenen, keine Karikaturen. Auch Handeln mit zweifelhaftem Antrieb bleibt Handeln und behält seine Würde. Die Genese von Tellkamps poetische Figuren gleicht dem wundersamen Mädchen mit dem Harfner, dem Goethe auf dem Weg nach Italien oberhalb des Walchensees begegnete, und das zur Mignon im Wilhelm Meister geworden ist. Die Möglichkeit einer zauberischen Welt wird durch die magische Wirkung des Kunstwerks bestätigt. Die Lektüre ist befreiend.
Der Literat als Volksbefreier
Wo alles Private, von der Ernährung über die Wahl der Geschlechtspartner bis zur Körperreinigung, politisch bewertet wird, da privatisiert der Autor im Gegenzug das Politische. Zugelassen wird im Bereich der Kunst nur, was erlebt und empfunden ist. Nur unter dieser Bedingung kann das politisch Faktische, in Gestalt der Maueröffnung 1989, der Volkskammerwahl von 1990 oder der Invasion von 2015 Geltung beanspruchen. Damit ist der Roman das Gegenteil der journalistischen Ammenmärchen von Gut und Böse und den dürren Kausalitäten begangenen Unrechts, mit denen das Volk auf Trab gehalten werden soll. Im blutigen und albernen Wirrwarr von Politik und Geschichte wird ihm keine Atempause gewährt, in der es seines wahren Ortes und Befindens inne werden könnte. Denn sobald es sich zu fühlen beginnt, bekommt es sogleich erklärt, dass alles ganz anders gewesen sei. Seine Empfindungen seien unzuverlässig und darum unzulässig. Die Fakten und Urkunden sprächen eine andere Sprache. Und es hat noch kein Regime gegeben, das nicht notfalls lieber auf die Selbstbeschreibung seines Gegners und Vorgängers zurückgegriffen hat, als auf die Empfindungen seines Volkes zu vertrauen. Dieses wird um jeden Preis in Schach gehalten. In dieser grundsätzlichen Zähmungsabsicht stimmen alle linken, faschistischen, kommunistischen, liberalen oder demokratischen Verfasstheiten überein. Man könnte in dieser Hinsicht beinahe sagen: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.
Die erzählerische Sprache der Literatur
entgiftet den Leser von der Propaganda.
Machtsicherung, von wem auch immer, beruht auf Verdunklung der Wahrnehmungsinstinkte des Volkes. Dessen Intuition pervertiert sich, indem es in Verschwörungstheorien ein Ventil sucht. Zum Teil werden sie lanciert, um mit bizarren Thesen von ganz konkreter Verschwörungspraxis abzulenken. Letzten Endes beinhalten sie profane Metaphern für unfassbare Vorgänge. Was sich der Beschreibung entzieht, davon wird notgedrungen fabuliert. Hier kommen die Dichter ins Spiel. Die Kulturhegemonie eines Massenunterhaltungsbetriebs versucht seit Jahrzehnten deren Sprache zu verschütten, Wirkung zu degradieren und abzubiegen. Bequemlichkeit wird ausgenutzt. Anstatt dichterischer Werke, in denen das Rätsel unseres Daseins uns entgegengehalten wird, sollen wir sogenannte Fakten akzeptieren.
Allein die erzählerische Sprache der Literatur kann den Leser emanzipieren von diesem unablässigen Gebläse der Propaganda aller Systeme. Louis-Ferdinand Celine in „Reise ans Ende der Nacht“, Ernst Jünger in „Eumeswil“, Peter Handke in „Der Bildverlust“ oder Heimito von Doderer in „Die Strudelhofstiege“ aber auch Alexander Solschenizyn mit seinen Erkundungen im Russland des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts haben die Geschichte durch Erzählung entgiftet und ihre Leser damit von der Suggestion der Propaganda befreit. „Der Schlaf in den Uhren“ dröselt Seite für Seite die Fasern einer zum Lehrstück und Erziehungsdebakel erhobenen Geschichte auf und verweigert den moralischen Kurzschluss. Die Ereignisse und Gestalten geraten durch sein beharrliches Erzählen in unerwartete Beziehungen zueinander. Einige Enden verbinden sich nun, die bislang in verschiedenen Strängen der Geschichtserzählung geführt wurden. Dadurch entsteht mancher Lichtbogen der Erkenntnis und es schlagen plötzlich Funken aus bislang trostlosen Ecken. Ein Buch, für das einem das Rüstzeug während der Lektüre gereicht wird und ein hohes Lesevergnügen mit Erkenntniswert. ■
Wir danken herzlich dem Autor für die Erlaubnis, seinen Text veröffentlichen zu dürfen.
Lebensdaten
Uwe Tellkamp (* 28. Oktober 1968 in Dresden) ist ein deutscher Schriftsteller. Sein bekanntester Roman Der Turm (2008) handelt von den letzten sieben Jahren der DDR bis zur Wende aus Sicht des Bildungsbürgertums in einem Dresdner-Villen-Viertel. Er wurde als Wenderoman eingeordnet und mit mehreren Preisen ausgezeichnet, insbesondere mit dem Deutschen Buchpreis 2008. (Wikipedia)
Dokumentarfilm
Der Fall Tellkamp – Streit um die Meinungsfreiheit. Lange haben Leserschaft und Feuilleton darauf gewartet, nun ist er da: Uwe Tellkamps neuer Roman „Der Schlaf in den Uhren“ erscheint bei Suhrkamp. Viel wurde in den letzten Jahren spekuliert, auch ob der Verlag überhaupt noch zu seinem preisgekrönten Autor steht. Zu groß schienen die Differenzen, seitdem sich Tellkamp 2018 gegen islamische Zuwanderung positionierte und massiver öffentlicher Kritik ausgesetzt sah. Ein Dokumentarfilm von Andreas Gräfenstein (2022, 90 Min)
Siehe auch: 3sat, 18.05.2022 Verfügbar bis: bis 18.05.2027
Tellkamp und Grünbein
Bei der Veranstaltung „Streitbar! Wie frei sind wir mit unseren Meinungen?“ diskutierten am 8. März 2018 Uwe Tellkamp („Charta 2017“) und Durs Grünbein („Aufruf von Tätigen im Literatur- und Kulturbereich“) über die Frage: „Wieviel Meinungsfreiheit halten wir aus?“ im Konzertsaal des Dresdner Kulturpalastes. Moderiert wurde der Abend von Karin Großmann, Chefreporterin der Sächsischen Zeitung. (1:29:25 Std.)
Wortmeldung Kubitschek
Wortmeldung des Verlegers Götz Kubitschek beim Forum Meinungsfreiheit mit Uwe Tellkamp und Durs Grünbein
Toleranter Umgang bedeute, so die reichlich eingestreuten Kultur-Vermittler, die Grenzen der Toleranz strikt zu beachten. Mit einem solchen, wie dem Tellkamp, sei deswegen ein Gespräch nicht mehr möglich, weil er sich außerhalb des Sagbaren gestellt habe. Besser kann man es kaum sagen. Toleranz ist die Meinung des Wir, so dass das abweichende Du nicht mehr zu Wort kommen darf.
Helmut Roewer: Besuch im Labyrinth. Einige Anmerkungen zum jüngsten Roman von Uwe Tellkamp
Romane und Erzählungen
Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café. Roman. Verlag Faber & Faber, Leipzig 2000.
Der Eisvogel. Roman. Rowohlt, Berlin 2005.
Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Buchausgabe. Frankfurt am Main 2008.
Die Schwebebahn: Dresdner Erkundungen. Mit Fotografien von Werner Lieberknecht. Insel Verlag, Berlin 2010.
Die Carus-Sachen. Mit Illustrationen von Andreas Töpfer. Edition Eichthal, Eckernförde 2017.
Das Atelier. Erzählung. Edition BuchHaus Loschwitz, Dresden 2020.
Der Schlaf in den Uhren. Roman. Suhrkamp, Berlin 2022.